Salutogene Lebenswelten von Kindern

Warum eigentlich salutogen?

Unter Lebenswelten verstehe ich hier alle räumlichen Zusammenhänge in denen wir leben, also unsere räumliche Welt. Die Aussage, dass unsere räumliche Umwelt unsere Gesundheit beeinflusst, mag vordergründig banal klingen. Sobald man ins Detail geht, ergeben sich zahlreiche handlungsleitende Erkenntnisse, die leider im Wohnbau viel zu wenig berücksichtigt werden. Nachdem wir hier die Lebenswelten von Kindern betrachten, lohnt es sich, zunächst die Lebenssituation von Kindern zu erläutern.
Kinder werden in eine räumliche und soziale Umwelt hinein geboren. Die kleine Welt der Wohnung und der Familie ist zunächst die gesamte Welt des Kindes. Es besteht keine Vergleichsmöglichkeit mit anderen Wohnsituationen, auch kein Veränderungswunsch. Kinder denken, das gehört so wie es ist. Daher können schlechte Wohnsituationen bei Kindern sehr schnell zur erlernten Hilflosigkeit führen (die meist unbewusste Überzeugung „ich kann nichts dazu beitragen, dass es mir besser geht“). Nachdem die Wohnung die Entwicklungsumwelt der Kinder ist, wirken sich schlechte Bedingungen bei ihnen stärker und nachhaltiger aus als bei Erwachsenen. Dazu kommt noch, dass Erwachsene einen größeren räumlichen Handlungsspielraum haben als Kinder.
Wohnungen und Wohnsiedlungen zu bauen, bei denen die Entwicklungsbedürfnisse von Kindern nicht ausreichend berücksichtigt sind, kommt einer langandauernden Entwicklungshemmung gleich, oftmals mit gravierenden gesundheitlichen Auswirkungen.
Antonovsky (1997), der Gründer der Salutogenese, hat das genaue Gegenteil der erlernten Hilflosigkeit als Grundlage für jede gesunde Entwicklung gesehen. Er hat dies als Kohärenzgefühl bezeichnet. Dies stellt sich ein, wenn die inneren und äußeren Stimuli verstehbar, bewältigbar und sinnhaft sind. Daher ist es, auch in seinem Sinn, sehr berechtigt , von salutogenen und pathogenen Lebenswelten zu sprechen. Die gesunde Entwicklung geht bei Kindern einher mit der Entwicklung dieses Kohärenzgefühles und mit der Entwicklung von positiven Selbstwirksamkeitserwartungen. Die räumlichen Lebenswelten prägen in einem sehr hohen Ausmaß die Entwicklung dieser Selbstwirksamkeitserwartungen.

Was wirkt salutogen

Nun möchte ich auf konkrete Dinge eingehen, die aus unseren Wohnsiedlungen und Wohnhäusern salutogene Lebenswelten für Kinder machen. Dazu sollten wir uns vergegenwärtigen, was Entwicklungsbedürfnisse von Kindern sind, um dann im Anschluss daraus Konsequenzen für das Wohnen abzuleiten. Dabei beschränke ich mich hier auf zwei dieser Entwicklungsbedürfnisse, nämlich „Kinder brauchen Sicherheit“ und „Kinder lernen durch das Spielen“.

Kinder brauchen Sicherheit

Dieses grundlegende Bedürfnis von Kindern, wird durch räumliche Bedingungen vielfach untergraben. Auf zwei dieser Faktoren möchte ich näher eingehen, nämlich beengte Wohnsituationen und die naturferne Gestaltung.
Es wurde festgestellt, dass Menschen in beengten Wohnsituationen mit Rückzug oder mit Aggression reagieren. Dies kann auch bei einer Person wechseln. Kinder in beengten Wohnungen leben also in einem Familiensystem, wo häufig mit Rückzug oder Aggression reagiert wird. Ohne die genaueren Zusammenhänge zu kennen, die zum Erleben von Beengung (crowding) führt, müsste man an dieser Stelle resignieren. Es wird kaum möglich sein, all diesen Familien, eine größere Wohnung zur Verfügung zu stellen, und dies mit denselben finanziellen Mitteln.
Ein Schlüssel zum Verständnis von Beengung ist, zwischen räumlicher und sozialer Dichte zu unterscheiden. Die räumliche Dichte gibt an, wieviel Raum ein Mensch zur Verfügung hat, wohingegen die soziale Dichte angibt, wie viele Menschen sich in einem Raum aufhalten. Wenn Sie sich in einem kleinen Raum (12 m2) mit Fenster aufhalten und ein Buch lesen, werden Sie sich kaum beengt fühlen, wohingegen diese Beengung sehr wohl auftritt, wenn Sie sich zu dritt in einem großen Raum (40m2) aufhalten und Sie wieder versuchen ein Buch zu lesen, während die anderen miteinander sprechen. Die räumliche Dichte ist hier geringer, die soziale Dichte jedoch viel höher. Beengung entsteht also durch Konflikte aus unterschiedlichen Tätigkeiten, die im Familienleben natürlich laufend auftreten. Die Kinder spielen und toben, während sich die Eltern entspannen wollen. Daraus erkennen wir, dass es wichtig ist, in der Wohnung Zonen zu bilden, die es möglich machen sich zumindest teilweise zurück zu ziehen. Weiters ist es wichtig, dass jedes Familienmitglied gewisse Territorien (Räume oder Zonen) für sich in Besitz nehmen kann. Diese Territorien beginnen bereits im Bad, wo im Badezimmerschrank darauf geachtet werden sollte, die Fächer zu trennen.
Durch die Zuordnung von klaren Territorien in Jugendwohnheimen, kann das Aggressionsniveau deutlich gesenkt werden. Je klarer die Abgrenzung ist, umso weniger Aggression entsteht. Diese Zusammenhänge werden von Modetrends in der Architektur deutlich untergraben, wenn offen Räume mit möglichst viel Glas verlangt werden.
Es geht hier um eine gesunde Ausgewogenheit, weil es sehr wohl wichtig ist, die natürlichen Außenräume wahrzunehmen. Viele Studien belegen die gesundheitsfördernde Wirkung von Natur, auch wenn sie nur visuell wahrgenommen wird.
Auch für die Nichtentstehung von Gewalt, ist Natur ein wesentlicher Parameter. Kuo und Sullivan haben (2001) den Zusammenhang von grüner Wohnumgebung und Aggression bzw. familiärer Gewalt festgestellt. Eine grüne Wohnumgebung bewirkt ein Absinken der Aggression und der familiären Gewalt. Dieser Zusammenhang wirkt über eine Verbesserung der Aufmerksamkeit, die ebenfalls festgestellt wurde. „Aggression steht offenbar in einem engen Zusammenhang mit mentaler Erschöpfung, die durch Unaufmerksamkeit, Reizbarkeit und Impulsivität gekennzeichnet ist. Mentale Erschöpfung trägt auf drei Weisen zu Aggressivität bei: durch eine verlangsamte Informationsverarbeitung (geminderte Aufmerksamkeit), durch eine erhöhte Reizbarkeit und eine geminderte Impulskontrolle. Alle diese drei Faktoren bedingen unabhängig voneinander aggressives Verhalten.“
Somit haben wir zumindest drei Möglichkeiten kennen gelernt, die Gewaltbereitschaft in Familien zu senken, nämlich das Schaffen von Zonen in Wohnungen, wo es zu wenig Grenzen gibt, die eindeutige Zuordnung von Territorien in verschiedener Weise und die Einbindung von Natur, auch wenn es nur Bilder oder Pflanzen sind.

Kinder lernen durch das Spielen

Für Kinder ist die Welt eine Spielwelt, und dies deshalb, weil Lernen durch Spielen passiert, zumindest solange, bis das Bildungssystem andere Formen des Lernens nahe legt. Wir wollen nun festhalten, welche räumlichen Bedingungen Kinder brauchen, um ihr Spielen möglichst vielfältig zu entfalten. Dabei werde ich hier zwischen der Spielumwelt in der Wohnung und der Spielumwelt außerhalb der Wohnung unterscheiden.

Spielen in der Wohnung

In der Wohnung möchte ich zwei Aspekte heraus greifen. Kleinere Kinder brauchen beim Spiel die Nähe der Eltern und werden daher kaum im Kinderzimmer spielen. Hier ist es wichtig, dass für die Mutter oder den Vater die Hausarbeit und Kinderaufsicht gut zu verbinden ist. Besonders in der sogenannten Widerannäherungsphase nach Piaget, holen sich Kinder nach einer Phase der Exploration (Erkundung) wieder die Gewissheit, dass der sichere Hafen (Mutter oder Vater) noch da ist. Kinder werden in dieser Phase also oft zwischen Spiel und Nähe zu den Eltern wechseln. Je einfacher dies funktioniert, umso besser wird sich das Kind auf das Spiel konzentrieren können. Räumlich bedeutet dies, dass Familien einen Raum brauchen, in dem Kochen, Essen, Hausarbeit, Spielen, aber auch Schulübungen machen geschehen kann. Damit es auch Rückzugsmöglichkeiten gibt, bewährt es sich, dieses Familienzentrum vom Wohnzimmer zu trennen, das dann einen ruhigen Bereich darstellt.
Erst im Alter von 8 bis 12 Jahren ist es für die meisten Kinder wichtig, ein eigenes Zimmer zu haben, weil erst dann das Bedürfnis nach mehr Privatheit entsteht. Zum Spielen werden kleinere Kinder das Kinderzimmer kaum verwenden, und schlafen tun die meisten Kinder lieber in Anwesenheit der Geschwister.

Spielen außerhalb der Wohnung

Aktionsräume für Kinder, sollen nach Blinkert (1993) möglichst vom wohnungsnahen Bereich, hin zu einem Streifraum von einigen 100m reichen. Gerade diese wohnungsfernen Aktionsräume, sollten sicher und möglichst mit dem Fahrrad erreichbar sein. Ferner ist es wesentlich, dass im Wohnungsumfeld Spielkameraden anzutreffen sind.
Gerade die Schaffung und Vernetzung von Aktionsräumen für Kinder ist eine Angelegenheit, die unbedingt in örtlichen Raumplanungen stärker berücksichtigt werden sollte.

Hier einige Anregungen

  • das Siedlungsgebiet sollte möglichst frei von Durchzugsverkehr sein
  • es sollte bespielbare Grünflächen oder Brachflächen geben
  • Naturflächen können im Streifraum erforscht werden
  • Spielplätze unterschiedlichen Charakters sollten erreichbar sein, ohne verkehrsreiche Straße zu queren
  • die Spielplätze sollen natürlich gestaltet und in die Natur eingebunden sein
  • im Streifraum sollte es Treffpunkte für Jugendliche geben

Zusätzlich zur Spielraumqualität hat auch der Schulweg eine hohe Bedeutung. Jeder Weg, den Kinder mit andern Kindern und sicher bewältigen können, ist eine Gelegenheit zum Spielen und Toben, und damit auch zur Stressverarbeitung.

Die Lebenswelten von Kindern sind so vielfältig, dass eine fast unüberschaubare Menge an Faktoren eine Rolle spielen können. Daher wurde vom Institut für Wohn- und Architekturpsychologie (www.iwap.at) ein Bewertungsinstrument für salutogene Lebenswelten geschaffen, das möglichst viele Aspekte abdeckt.

 

Literatur
Antonovsky, A. (1997). Zur Entmystifizierung der Gesundheit. dgvt Verlag
Blinkert, B. (1993). Aktionsräume von Kindern in der Stadt. Eine Untersuchung im Auftrag der Stadt Freiburg. Centaurus Verlag.
Flade, A. (2006). Wohnen psychologisch betrachtet. Bern: Verlag Hans Huber.
Kuo, F. E., Sullivan W. S. (2001) Environment and Crime in the Inner City — Does Vegetation Reduce Crime? Environment and Behavior. 33/3 343-367.
Reichl, H. (2014) Humane Lebenswelten. CreateSpace Independent Publishing