Kindliche Autonomie und elterliche Verantwortung – (k)ein Widerspruch?

Von: Dr. Ulrike Zartler und Dr. Martina Beham
Quelle: beziehungsweise 3/2014

Kindern werden heute in vielen Lebensbereichen mehr Selbstständigkeit und Entscheidungsmöglichkeiten zugestanden als noch vor einigen Jahrzehnten. Dies zeigt sich zum Beispiel in einem veränderten Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, einem selbstbestimmteren Umgang von Kindern mit Medien oder vermehrten Mitsprachemöglichkeiten in der Schule. Je jünger Kinder sind, umso mehr treffen Eltern Entscheidungen nicht mit den Kindern, sondern für die Kinder. So sind es die Eltern, die darüber entscheiden, ob sie ihr Kind impfen lassen oder nicht, ob die Tagesbetreuung ihres Kleinkindes primär familiär oder institutionell organisiert wird, welchen Kindergarten das Kind besucht, und vieles mehr.

Aber wer legt fest, wann Kinder in Entscheidungsfindungsprozesse aktiv eingebunden werden? Wie gehen Eltern mit der Herausforderung um, ihren Kindern mit steigendem Alter mehr Autonomie zuzugestehen? Wie können Kinder ihre Anliegen ausdrücken, wenn Eltern nicht „im Interesse des Kindes“ entscheiden? Wie passen elterliche Schutz- und Versorgungsverpflichtungen mit Partizipa-tionsrechten von Kindern zusammen?

Diese und ähnliche Fragen diskutierte die Österreichische Gesellschaft für Interdisziplinäre Familienforschung (ÖGIF) im Rahmen eines ExpertInnen-Talks zum Thema „Kindliche Selbstbestimmung und familiäre Verantwortung“ unter Beteiligung von VertreterInnen aus Wissenschaft und Praxis.

Kinderrechte im Einklang mit elterlicher Verantwortung

Im Sinne der UN-Kinderrechtekonvention haben Eltern das Recht, aber auch die Pflicht, jedes Kind „in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise angemessen zu leiten und zu führen“ (Art. 5, UN-KRK). Zugleich werden Kinder als TrägerInnen eigener sozialer, kultureller und bürgerlicher Rechte anerkannt, und sie haben ein Recht auf freie Meinungsäußerung und Partizipation entsprechend ihrem Alter und ihrer Reife (Art. 12 Abs. 1 UN-KRK).

Das Recht der Kinder auf Partizipation und die Verantwortung der Eltern zu angemessener Unterstützung stehen im Sinne der Kinderrechtekonvention allerdings nicht im Widerspruch, weil sie auf einem Bild vom Kind aufbauen, welches das Kind zum Träger seiner „evolving capacities“ macht. Das Kind wird, wie im Konzept der Entwicklungsaufgaben (Havighurst 1973) dargestellt, in seiner Entwicklung, seinen zunehmenden Fähigkeiten und seiner wachsenden Verantwortlichkeit gesehen. Eltern wird die Aufgabe zugeschrieben, die Autonomie des Kindes altersadäquat zu fördern und zu unterstützen, denn Kinder haben, wie im B-KJHG 2013 (§1 Abs. 1) formuliert, „ein Recht auf Förderung ihrer Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“.

Zentrales Leitprinzip dabei ist das Kindeswohl, das an der Erfüllung physischer Bedürfnisse ebenso festgemacht wird wie an Partizipationsmöglichkeiten. So etwa nennt der Gesetzgeber (§138 ABGB) als ein Kriterium bei der Beurteilung des Kindeswohls die Berücksichtigung der Sichtweisen des Kindes in Abhängigkeit von dessen Verständnis und Fähigkeit zur Meinungsbildung. Dabei ist der Wille des Kindes umso maßgeblicher, je eher es den Grund und die Bedeutung einer Maßnahme einzusehen vermag.

Wird das Kindeswohl hinsichtlich Pflege und Erziehung von Eltern oder sonstigen damit betrauten Personen allerdings nicht gewährleistet, so ist es Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe, Unterstützung und Hilfe zur Förderung einer angemessenen Entfaltung und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und/oder zur Stärkung der Erziehungskompetenzen der Eltern zu gewähren (siehe §3 B-KJHG 2013).

Autonomieunterstützendes Erziehungsverhalten

Zu den elterlichen Erziehungskompetenzen gehört unter anderem das Bewusstsein, dass elterliches Erziehungsverhalten im Entwicklungsverlauf den sich verändernden Autonomiebedürfnissen von Kindern Rechnung tragen soll. Eine strikte Verhaltenskontrolle etwa widerspricht den steigenden Autonomiebedürfnissen von Jugendlichen (Baumrind 2005, Steinberg & Silk 2002). Werden Kinder mit ihren Sichtweisen und Interessen in familiäre Entscheidungsprozesse einbezogen, dann können in Familien die Grundlagen partizipativen Verhaltens erlernt und erprobt werden. Umgekehrt kann eine in der Familie gepflegte Verhandlungskultur zum Trainingsfeld für Partizipationsaktivitäten außerhalb der Familie, etwa in der Schule, werden (Alt et al. 2005). Auch tragen vermehrte Mitbestimmungsmöglichkeiten und die Förderung kindlicher Autonomie in Familie und Schule insgesamt zu einer positiven Lebenseinstellung bei und steigern nicht nur das Wohlbefinden im jeweiligen Lebensbereich, sondern beeinflussen sich wechselweise. Verstärkte Mitsprache- und Entscheidungsmöglichkeiten in der Schule wirken sich auch positiv auf das kindliche Befinden in der Familie aus. Dieser Effekt kann u. a. darauf zurückgeführt werden, dass demokratisch orientierte schulische Strukturen das Wohlbefinden, die Kompetenzen und die Schulleistungen der Kinder fördern (Bacher et al. 2007) und gute Schulleistungen ein positives familiäres Klima begünstigen.

Autonomieunterstützendes Erziehungsverhalten bedeutet nicht, dass adoleszente Kinder sich selbst überlassen werden. Gefragt ist nicht eine konfrontierende Verhaltenskontrolle, sondern vielmehr koerzive Kontrolle. Dies entspricht einem autoritativen Erziehungsstil, bei dem Eltern feinfühlig auf ihre Kinder eingehen, ihnen geforderte Verhaltensregeln erklären und diese begründen (Baumrind 2005). Autonomieunterstützendes Erziehungsverhalten setzt auf elterliches Monitoring (Informiertheit) über die Belange der Kinder. Zur Umsetzung eines solchen Verhaltens benötigen Eltern entsprechende Informationen und Kompetenzen.

Brisante Fragen, wie weit die Mit- und Selbstbestimmungsrechte von Kindern gehen sollen, stellen sich beispielsweise im Falle einer Trennung oder Scheidung der Eltern.

Elterliche Scheidung – Berücksichtigung des Kindeswillens

Der kindlichen Autonomie im Rahmen elterlicher Scheidung wurde in den vergangenen Jahren rechtlich vermehrt Rechnung getragen, wie Gesetzesänderungen im Bereich des KindRÄG 2001 oder KindNamRÄG 2013 zeigen. Kinder werden zunehmend gehört und erhalten die Möglichkeit, ihre Meinung zu äußern. Mit dem Rechtsinstitut des Kinderbeistandes (§104 AußerStreitG) wurde Kindern bei hochstrittigen Scheidungen eine Stimme gegeben (Barth/Gröger 2010).

Dennoch ist in besonders konflikthaften Fällen vielfach unklar, in welcher Relation Kinderrechte zu Elternrechten und -pflichten stehen, welche Gewichtung hier vorgenommen werden soll und inwieweit der Schutz des Kindeswohls dem Kindeswillen entspricht, beispielsweise bei der Kontakt- und Obsorgeregelung nach einer elterlichen Scheidung (Eich 2012, Figdor 2012).
Alternativ zum gerichtlichen Modell des Kinderbeistandes, der Besuchsbegleitung und verschiedenen Formen der Mediation wird daher bei konflikthaften Scheidungen auch mit anderen außergerichtlichen Trennungs- und Scheidungsverfahren versucht, Vereinbarungen auszuhandeln, die vor allem den Interessen der Kinder verpflichtet sind. In einem Collaborative Law-Verfahren („kooperatives Anwaltsverfahren“) als außergerichtlichem Trennungs- und Scheidungsverfahren bearbeiten strittige (Ehe-)Partner gemeinsam mit ihren jeweils beauftragten mediativ geschulten RechtsanwältInnen als ihre VertreterInnen Konflikte und suchen nach einvernehmlichen Lösungen. Einbezogen werden dabei als Kindercoaches auch psychologisch geschulte Fachleute. Sie beraten die Eltern, worauf diese angesichts des Entwicklungsstandes und der Bedürfnisse des Kindes bei der Ausarbeitung der Elternvereinbarung achten sollten.

Fazit

Seit der Ratizifierung der Kinderrechtekonvention vor mehr als 20 Jahren wurden rechtlich die Handlungsspielräume kindlicher Partizipation erweitert. Die Förderung kindlicher Autonomie erfordert neben rechtlichen Möglichkeiten aber auch elterliche Erziehungskompetenzen und das Bewusstsein, dass kindliche Selbstbestimmung ein Lernprozess ist, dessen Grundlagen wesentlich in der Familie erarbeitet und durch autonomieunterstützendes Erziehungsverhalten gefördert werden können. Aus Sicht der Kinder bietet das Praktizieren von Partizipation und Selbstbestimmung im einigermaßen geschützten Rahmen der Familien große Poten-ziale, was sich im Weiteren auch in verstärktem Engagement in anderen gesellschaftlichen Bereichen ausdrücken kann.

Literatur
Alt, Christian; Teubner, Markus; Winklhofer, Ursula (2005): Partizipation in Familie und Schule – Übungsfeld der Demokratie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 41, S. 24-31.
Bacher, Johann; Winklhofer, Ursula; Teubner, Markus (2007): Partizipation von Kindern in der Grundschule. In: Alt, Christian (Hg.): Kinderleben – Start in die Grundschule. Band 3: Ergebnisse aus der zweiten Welle. Wiesbaden: VS Verlag, S. 271-299.
Barth, Peter; Gröger, Katharina (2010): Das neue Kinderbeistand-Gesetz im Überblick. In: iFamZ, 5(4), S. 221-226.
Baumrind, Diana (2005). Patterns of parental authority and adolescent autonomy. In: Smetana, Judith (Hg.): New directions for child development: Changing boundaries of parental authority during adolescence. San Francisco: Jossey-Bass, S. 61-69.
Bundesgesetz über die Grundsätze für Hilfen für Familien und Erziehungshilfen für Kinder und Jugendliche (B-KJHG 2013); BGBl. Nr. 69/2013.
Eich, Holger (2012): Was ist Kindeswille, und wie bringen Kinder diesen zum Ausdruck? In: iFamZ, 7 (6), S. 324-330.
Figdor, Helmuth (2012): Welches Familiengericht brauchen das Kind, die Eltern, die Gesellschaft? In: iFamZ, 7(6), S. 318-323.
Havighurst, Robert (1973): Developmental Tasks and Education. 3rd edition, New York: David Mc Kay.
Kindschaftsrechts-Änderungsgesetz 2001 – KindRÄG 2001, BGBl. I Nr. 135/2000. www.ris.bka.gv.at Dokumente/BgblPdf/2000_135_1/2000_135_1.pdf
Kindschafts- und Namensrechts-Änderungsgesetz 2013 – KindNamRÄG 2013, BGBl. I Nr. 15/2013.
UN-Konvention über die Rechte des Kindes (1990): www.unicef.at/fileadmin/media/Kinderrechte/crcger.pdf (05.12.2013).
Kinderbeistand-Gesetz 2010; BGBl. I Nr. 137/2009.
Steinberg, Laurence; Silk, Jennifer S. (2002): Parenting adolescents. In: Bornstein Marc H. (Hg.): Handbook of Parenting. Nr. 1, Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum, S. 103-133.

Die ExpertInnenrunde
Univ.-Prof. Dr. Johann Bacher (JKU Linz, Dekan der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät)
PH-Prof.in Dr. Doris Baum (Pädagogische Hochschule der Diözese Linz)
Dr. Martina Beham-Rabanser (JKU Linz)
Dr. Andreas Girzikovsky (LSR OÖ)
Mag.a Michaela Kern (Kinderschutzzentrum Linz)
Dr. Helmut Sax (Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte, Wien)
Dr. Friedrich Schwarzinger (Rechtsanwalt, Wels)
Mag.a Barbara Spranger (Institut für Familien- und Jugendberatung, Linz)
Prof.FH PDin Dr. Petra Wagner (Fachhochschule OÖ)
Mag. Christoph Weber (Pädagogische Hochschule OÖ)
Ass.-Prof. Dr. Harald Werneck (Universität Wien)
Mag. Peter Wienerroither (Amt der OÖ. Landesregierung)
Mag.a Carina Wiesmayr (KIJA OÖ)
Univ.-Ass. Dr. Ulrike Zartler (Universität Wien).

Kontakt
ulrike.zartler(at)univie.ac.at
martina.beham-rabanser(at)jku.at
Österreichische Gesellschaft für Interdisziplinäre Familienforschung (ÖGIF) www.oegif.ac.at