Die Familiale Esskultur

Der Text wurde mit Genehmigung der Redaktion von "beziehungsweise" und der Autorin publiziert.

Welche Bedeutung hat die Mahlzeit für die Familie?

Die Familienmahlzeit ist ein Ort der Kultivierung der Gemeinschaft und des Essens. Familienmitglieder kommen aus den verschiedenen Lebensbereichen zum Essen, tauschen sich untereinander aus und finden, wenn es gut läuft, immer wieder neu zusammen. Die durch das Essen produzierten Hormone können positive Gefühle schaffen, die sich nicht nur auf Geschmackserfahrung, sondern auch auf Beziehungen übertragen (DRWS 2013).

Die Studie von Bartsch zur Jugendesskultur (2011) zeigt, dass Jugendliche sich auch dann noch zu einem gemeinsamen Mahl dazusetzen, wenn sie bereits satt sind. Sie suchen das Zusammensein und die Kommunikation.

Wie kommt der Mensch auf den Geschmack?

„Wir essen nicht, was wir mögen, sondern wir mögen, was wir essen.“ Diese Aussage des Ernährungspsychologen Pudel (2002) kennzeichnet die Grundlage des Essenlernens. Von Natur aus mögen Menschen (von Geburt an) den süßen Geschmack und den von Fleisch und Fett. An salzig und sauer  gewöhnen sie sich, bitter wird als „Geschmack des Giftes“ zunächst abgelehnt. Kinder lernen, ihn zu akzeptieren. Dies erfordert bei Gemüse, das Bitterstoffe beinhaltet, oft mehr Geduld, weil für den Verzehr von Gemüse meist weit weniger Motivation gegeben ist als für süße Limonaden.

Essen lernt man durch essen: Schon im Mutterleib und später beim Stillen gewöhnen sich Kinder an den Geschmack des Essens, das die Mutter zu sich nimmt. Mütter können damit Kinder schon auf bestimmte Geschmacksarten (Süße) und Aromen (Fisch, Knoblauch) konditionieren. Kleinkinder lernen nach der Stillphase Schritt für Schritt diese und weitere Geschmäcker durch die Speisen kennen, die ihnen angeboten werden.

Es ist sehr wichtig, dass Kinder weitere Geschmäcker akzeptieren. Dieses Erziehungsziel sollte besonders gefördert werden, da eine gesunde und vielseitige Ernährung somit wahrscheinlicher ist (DRWS 2013; Methfessel et al. 2016). Daher ist es problematisch, wenn Eltern sich zunehmenden freiwillig auf einige wenige Grundgerichte wie z.B. Pizza, Pasta, Pommes (das „PiPaPo-Prinzip“) beschränken. Sie geben den Kindern häufig nach, um Konflikte zu vermeiden.

Esskultur und Familienkultur

Esskultur ist immer Teil einer Familienkultur. Hier bilden sich verschiedene Formen des Umgangs und des Zusammenlebens:

  • Kultur der Sorge: Die Versorgung mit Nahrung ist eingebettet in eine Fürsorge füreinander und für die Kinder. Die Erfahrung des „Umsorgtseins“ gibt Kindern Sicherheit.
     
  • Körperkulturen: Mit Esskulturen sind oft Körperkulturen verbunden. Heute sind für viele Personen „Schlankheit und Fitness“ zentrale Ziele. Diese Ziele werden aber nicht (nur) mit Bewegung und gesundheitsförderlichem Essen angestrebt, sondern meist durch ein „kontrolliertes Essverhalten“, bei dem die körperlichen Signale nicht mehr beachtet werden, und durch Diäten: Eine Diät (gemeinsam mit der Mutter) wird für manche Mädchen inzwischen zum Initiationsritual, um „Frau zu werden“, obwohl es diese Diät nicht benötigt. Kinder sollten nicht einen verbissenen Kampf gegen den Körper, sondern ein fröhliches Leben mit dem Körper erleben und lernen (Methfessel et al. 2016).
     
  • Strukturen und Rituale der Gemeinschaft: Rhythmen, Regeln und Rituale helfen Kindern, sich in das Leben der sozialen Gruppen einzufügen, sich darin zurechtzufinden und angemessen zu verhalten, auch im Hinblick auf das Essverhalten.
     
  • Kultur der gegenseitigen Achtung statt falsch verstandener Selbstbestimmung: Essen liegt meist noch weitgehend in den Händen der Frauen. Leider ist damit auch verbunden, dass die Bemühungen vieler Frauen um eine (in ihrem jeweiligen Verständnis) „gute“ Ernährung nicht angemessen gewürdigt werden. Wenn nicht das Lieblingsgericht zubereitet wird, folgt „Gemecker“ oder eine Selbstversorgung aus dem Kühlschrank. Regeln wie „über Essen darf geredet, aber nicht gemeckert werden“ und „Kühl- und Gefrierschrank sind vor den Mahlzeiten und für Kinder tabu“ (weil eine Selbstbedienung daraus das Essen bei Familien-Mahlzeiten untergräbt) sind wichtige Voraussetzungen, auch für die Achtung der Arbeit mit den Mahlzeiten. Zur Achtung gehört andererseits selbstverständlich auch, dass Aversionen und Abneigungen respektiert werden.
     
  • Kultur des gemeinsamen sinnlichen Genusses und einer „angenehmen“ Kommunikation: Wo nicht nur eilig das Essen heruntergeschlungen wird (was auch zum Alltag gehört), sondern gemeinsam gesessen, gegessen und geredet wird, da können sowohl Genuss als auch Kommunikation Raum finden. Streit beim Essen, Kommentare zu den Schulleistungen oder andere, die beteiligten Personen bedrückende Themen können das Essen verleiden – nicht nur aktuell, sondern auch langfristig. Kinder aus Familien, bei denen am Tisch regelmäßig gestritten wird, können nicht nur den Spaß an einzelnen Gerichten, sondern am Essen überhaupt verlieren.


Ein Problem der heutigen Ernährung liegt im allgegenwärtigen Zugriff auf weniger empfehlenswerte Lebensmittel, die viel Zucker, Fett, Aromen und Geschmacksverstärker enthalten. Letztere haben Kinder gegebenenfalls schon durch die Ernährung der Mutter in der Schwangerschaft kennen und lieben gelernt. Solange nur gesundheitsförderliche Nahrungsmittel und Speisen zur Verfügung stehen und Kinder selbstverständlich und nebenbei lernen, dass diese „gutes und genießbares Essen“ sind, kann man Kindern die Wahl der Nahrungsmittel weitgehend frei überlassen. Dann regulieren Hunger und die jeweilige körperliche Entwicklung die Wahl.

Folgerungen für die familiale Esskultur

Welche Bedeutung hat die familiale Esskultur? Worauf ist zu achten?
Da der Mensch zunächst meist einen vertrauten, Sicherheit gebenden Geschmack bevorzugt, ist es nicht verwunderlich, wenn Kinder zum Vertrauten greifen. Bei Kleinkindern bis zum dritten oder vierten Lebensjahr sind Phasen der Gewöhnung durch Wunsch nach Wiederholung normal. Allmählich sollte ein Geschmack (Gericht) nach dem anderen eingeführt und erst einmal vertraut werden, Neues sollte sich mit Bekanntem abwechseln. Nicht von allen Kindern kann erwartet werden, dass sie von sich aus ihr Geschmacksspektrum erweitern. Einige tun dies durchaus, vor allem, wenn sie das Essen der Eltern haben wollen. Andere benötigen deren Impulse.

In früheren, weniger reichen und liberalen Zeiten entstand daraus seltener ein Problem: Gegessen wurde, was auf den Tisch kam (und auch nicht immer, zumindest nicht von Beginn an, mit Begeisterung), und der Hunger, die unhinterfragten Tischregeln und/oder die Strenge der Eltern unterbanden heute übliche Widerstände. Heutzutage gibt es weniger Hunger und eine liberalere Erziehung. Die Besorgnis der Eltern führt sogar dazu, dass die Kinder den Esstisch als einen Platz entdecken, an dem sie die Mutter bzw. die Eltern manipulieren können. (Zu) Häufig gilt, dass nicht die Kinder dankbar sind, wenn sie etwas zu essen bekommen, sondern die Eltern, wenn die Kinder das Angebotene essen. Dies führt zu einem Teufelskreis von Interaktionen, die dem Essen einen „verrückten“ Platz geben, irgendwo zwischen Machtkampf, Therapie und Resignation.

Der „Familientisch“ ist ein Mikrokosmos. Es lohnt sich, ihn als Bildungs-, Genuss- und Gemeinschaftsort zu erhalten und zu gestalten (Methfessel 2011). Familiale Alltagskultur zeigt sich auch in der familialen Esskultur, im Stellenwert des gemeinsamen Essens, des Einsatzes dafür im Alltag – und im Stellenwert derer, die sich darum sorgen.