Die Bedeutung von Märchen im Leben von Kindern und was Erwachsene von den Märchen der Kinder lernen können

Die Eltern waren sehr besorgt, schon wieder war der Kleine in der Nacht zu ihnen ins Bett gekrochen, voller Angst vor dem Krokodil, das ins Kinderzimmer kommen wollte.
Alle Versuche, dem Kleinen zu erklären, dass es in Österreich kein Krokodil gäbe, und wenn, dass es ganz und gar undenkbar wäre, dass dieses in den 4. Stock klettern könne, brachten nicht die ersehnte Beruhigung.
So wurde beschlossen, mit dem Kleinen einen Psychotherapeuten zu besuchen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Der Psychotherapeut hörte sich die Geschichte an. Schließlich fragte er den Kleinen, was er denn bräuchte. Ohne lange zu überlegen antwortete der Junge, dass er einen dicken Knüppel aus Holz unter seinem Bett wolle, um sich verteidigen zu können.
Tortz großem Zweifel über die Kompetenz des Therapeuten ging der Vater am nächsten Tag dennoch tapfer mit seinem Sohn in den Wald, um den Knüppel zu holen. Der Knüppel wurde unter das Bett gelegt und siehe da, das Problem mit dem Krokodil war erledigt.

Es fällt uns Erwachsenen oft schwer, die „magische“ Welt unserer Kinder zu verstehen und zu begleiten. Wir spüren den Drang, unsere Kids rechtzeitig auf ein rational erklärbares Weltbild vorzubereiten, um sie lebensfähig und konkurrenzfähig zu machen in einer Welt, wo die Bäume eben nicht sprechen, die Tiere, abgesehen von Hunden und Katzen, maximal als Nahrungsmittel, aber keinesfalls als beseelt gelten, und Spiritualität (wenn das schon sein muss) nur in den verordneten und geregelten Bahnen einer traditionellen Religionsideologie stattfinden darf.

Märchen, vor allem die der Brüder Grimm, sprengen die Eindimensionalität logisch kausaler Rationalität. Fast schon anarchisch, in jedem Fall aber hochgradig unwissenschaftlich wird alles verdreht, was man allgemein für „richtig“ hält.
Da steigt die Goldmarie in einen Brunnen hinab, um auf die Wiese der Frau Holle zu gelangen, da sprechen ein Backofen und ein Apfelbaum und dann fällt auch noch Schnee aus den geschüttelten Kissen auf die Erde herab, und anstatt in der gesicherten Nähe der Frau Holle zu bleiben, will das Mädchen zurück ins Elend...

Wir haben uns daran gewöhnt, uns mit diesen Märchen aus der Perspektive einer kindischen Folklore zu arrangieren und freuen uns, wenn wir, vermeintlich richtig, zumindest ein paar pädagogisch relevante Impulse ableiten können. So zum Beispiel beim Märchen der Frau Holle, dass die Tüchtigen und Fleißigen belohnt werden. Das Bild der faulen Pechmarie, die am Ende bestraft wird, freut eine Gesellschaft, die den Wert eines Menschen an seiner Leistungsfähigkeit gerne und gut zu definieren gelernt hat.

Genau so aber wird der unglaubliche Schatz dieser Märchen nicht gehoben, sondern verschüttet und vergraben. Zur Beruhigung einer Gesellschaft, der Unberechenbarkeit und Emotionen suspekt und abwegig gelten und die erst mühsam wieder lernen muss, dass Märchen und Mythen Relevantes von uns Menschen zu erzählen haben, das nicht unbedingt, zum Beispiel mathematisch darstellbar ist.
Zum Schaden der Kinder, die zumindest vor der Pubertät im erstaunlichen Ausmaß in der Lage wären, die Welt, die sie umgibt, auch abseits des rationalen Weltbildes sinnstiftend zu erfassen.

Fragen uns unsere Kleinen, warum die Sonne scheint, versuchen wir all das Wissen aus dem längst vergangenen Physikunterricht zu kramen: Kernfusion, Millionen von Grade.... unserer gerade 3 Jahre alt gewordenen Gesprächspartnerin würde die Antwort: „damit du es warm hast und dich freust“ völlig schlüssig und befriedigend reichen. Wir aber hätten bei dieser Antwort bereits mit dem aufkeimenden schlechten Gewissen zu kämpfen, dass wir nicht rechtzeitig mit dem richtigen Bildungsweg begonnen hätten.

Kinder sind in der Lage, Geschichten, Gedanken und Bilder derart intensiv mit zu leben, dass die Grenzen kritischer Distanz oft völlig verschwinden. Wir versuchen, sie an diesem Punkt mit unserem Realitätsprinzip zu „retten“, relativieren bis ins lächerlich Machen ihre Gefühle und leben den Kindern damit indirekt vor, dass Mitgefühl, Einfühlsamkeit, das „Sich Einlassen“, Emotionen und das Erfassen von Erkenntnis abseits der Rationalität, gefährlich oder zumindest absurd und unerwünscht sind.

Wie denn würde unsere Welt aussehen, wenn wir ausreichend in der Lage wären, zum Beispiel Mitgefühl als vollwertige Charaktereigenschaft zu leben? Wäre es dann denkbar, ein Kind bei Nacht und Nebel aus dem Schlaf zu reißen, um es abzuschieben in ein Land, das ihm fremd ist, nur weil seine Eltern geltendes Asylrecht gebrochen haben?

Die Erziehung zur Relativierung der Gefühle, der emotionalen Empathie zugunsten einer rationalen Abgeklärtheit ist gleichzusetzen mit der Erziehung zur Grausamkeit.

Anders aber, wenn es gelingt Geschichten zu erzählen, und zum Beispiel als Theaterstück auf die Bühne für Kinder zu stellen, in denen die Fähigkeit der Kinder sich ganz und gar einzufühlen, gefördert und begleitet wird.

In unserem Musiktheater „Anna und der Wolf“ erzählen wir die Geschichte von Anna, die von ihrer „Freundin“ gemobbt wird und vom Leistungsdruck bis in die Depression hinein gedrängt, keine Perspektive mehr sehen kann für den nächsten Morgen. Sie schläft ein, in der Hand ihren letzten Trostanker, einen Stoffwolf, der den Eltern schon längst ein peinliches Ärgernis ist.
Plötzlich ist der Wolf lebendig, kann reden, singen und tanzen. Nachdem Anna sichergestellt hat, dass dieser Wolf tatsächlich „ihr“ Wolferl ist, will sie unbedingt mit ihm in den Märchenwald gehen. Der Wolf, der aus dem Märchenwald geflohen ist, weil ihn der Oberjägermeister, zu Unrecht, wie sich bald herausstellt, für alle Missetaten in den Märchen zur Verantwortung ziehen will, willigt ein, und die beiden machen sich auf den Weg.
Im Märchenwald angekommen, begegnen sie Protagonisten aus dem Grimmschen Märchenschatz, dem Froschkönig, dem Aschenputtel, dem 7. Geißlein und dem Rumpelstilzchen deren jeweilige Probleme viel mit Annas eigenen Problemen gemeinsam haben. Es gelingt dem Mädchen im Märchenwald, vor allem durch die helfende Beziehung mit „ihrem“ Wolf, Schritte aus den Sackgassen ihrer Ängste zu setzen.

Die Erfahrung aus vielen Aufführungen dieses Theaterstückes zeigt, dass die Kinder das Geschehen emotional empathisch bis in die kleinste Zehenspitze begleiten. So erleben sie zum Beispiel mit dem Froschkönig, wie es ist, wenn ausgeschlossen oder ausgespottet wird - und sie gehen mit Anna den ersten Schritt zur entschlossenen Selbstverständlichkeit, dass, wenn nur die besten Vöglein im Wald singen dürften, es verdammt ruhig wäre auf der Welt.
Die Kinder erleben in ihrer Sympathie für den Wolf, was es heißt, wenn man für Taten beschuldigt wird, die man gar nicht gemacht hat - und wie das gut gehen kann, wenn man sich ausspricht und entschuldigt.

Dem dogmatisch, moralisierendem „du darfst nicht, oder: du sollst nicht" stellen wir eine Pädagogik der Empathie gegenüber. Per Identifikation mit dem Gegenüber wird nachvollziehbar, warum zum Beispiel das Verspotten von Mitschülern, die etwas nicht so gut können, so furchtbar ist für diese.

Wenn wir Menschen imstande sind, unser Verhalten grundlegend zu überdenken und zu verändern, so funktioniert das selten durch die Furcht vor der angedrohten Strafe, sondern eigentlich hauptsächlich, dann aber nachhaltig, durch das erlebende Erkennen der Tragik dessen, was wir anrichten, oder angerichtet haben.

Wenn es gelingt, mit den Kindern einzutauchen in die Welt der Märchen und Geschichten, die sie auch selber erzählen und erfinden, ohne dabei allzu voreilig die Reißleine der Rationalität zu ziehen, stärken wir ihre Lebenskompetenz.
Eine Pädagogik, die emphatisches Erleben als Entscheidungshintergrund für soziales Handeln fördert, Emotionen ernst nimmt und nicht sanktioniert, entwickelt mehr Selbstständigkeit und Mündigkeit als eine, die soziales Handeln per Gesetz verordnet.
Rein rational gedacht ist nämlich soziales Handeln, wie zum Beispiel Gewaltverzicht, vor dem Hintergrund evolutionärer Selektionsprinzipien, schwer erklärbar.

Märchen erzählen über uns Menschen, sie in der Seele klingen zu lassen, sich auf sie einzulassen gibt uns die Möglichkeit, die Grenzen einer rationalistischen Engführung im Umgang mit uns selbst und der Welt aufzubrechen.

Wenn es dann noch positive Bilder, Gedanken und Perspektiven gibt, wird ein Stück weit möglich, die Spirale der Gewalt zu brechen:

Der Frosch wird in den Brunnen springen, Aschenputtel wird den Tanz mit dem
Prinzen wagen, das 7. Geißlein wird sich von seiner Angst befreien, der Wolf wird
Anna vor dem Rumpelstilzchen beschützen und seine Freundschaft mit Anna wird
durch das böse Ressentiment des Oberjägermeisters nicht Schaden nehmen.
Anna wird nicht alle ihre Probleme lösen, aber den ersten Schritt in eine Zukunft
wagen, auf die sie sich auch freuen kann.