Wenn man Kinder nicht nur sieht, sondern auch hört. Überlegungen zum Thema Kinderlärm

Vor gut einem Jahr, am 24.4.2012, war auf der Internet-Seite des ORF zu lesen (Vgl. wien.orf.at/news/stories/2530240):
„In einem Gemeindebau in der Linzer Straße in Wien-Penzing hat ein 27-jähriger Fleischhauer Kinder mit einem Messer bedroht. (…) (Er) drohte ihnen mit den Worten ‚Verschwindet, sonst steche ich euch ab‘. Kurz danach zeigte sich der Mann an dem Fenster seiner Wohnung im Erdgeschoß und schrie die Kinder mit einem Messer in der Hand an.“

Was war der Grund für diesen Vorfall? Zwei Kinder zwischen sieben und elf Jahren hatten im Innenhof eines Gemeindebaus gespielt. Dem Mann waren die Kinder offenbar zu laut.

Ein Vorfall, der betroffen macht – deutlicher, um nicht zu sagen, plakativer kann Kinderfeind-lichkeit wohl kaum in Erscheinung treten.

Sicherlich haben wir es hier mit einem Extremfall zu tun, der in dieser Art und Weise zum Glück wohl eher selten anzutreffen ist. Dennoch soll dies nicht über eines hinwegtäuschen: Wenn es einen Faktor gibt, der im Alltag in der Konfrontation zwischen Erwachsenen und Kindern außerhalb des Kontextes Familie am ehesten Kinderfeindlichkeit heraufzubeschwö-ren vermag, dann handelt es sich primär um eben diesen: Kinderlärm.

Während sich ein früherer Artikel im Beziehungsweise mit den rechtlichen Aspekten des Kinderlärms auseinander gesetzt hat (Kinderlärm. Wenn bei Kinderlachen die Polizei einschreitet. Ein Kommentar von Peter Pitzinger), nähert sich der vorliegende Beitrag der Thematik von verschiedenen Seiten an. Dabei wird insbesondere der Frage nachgegangen, was im Speziellen gerade den von Kindern verursachten Lärm für viele Erwachsene so unerträglich macht und welche Querverbindungen zwischen dem Umgang mit Kinderlärm und dem historischen und gesellschaftlichen Kontext, in dem Menschen leben, hergestellt werden können.

Die objektive und die subjektive Seite des Lärms

Wenn man über „Kinderlärm“ diskutiert, ist es sinnvoll, sich vor Augen zu führen, dass „Lärm“ neben einer objektiven Komponente (Schalldruck, gemessen in Dezibel sowie Frequenz, gemessen in Hertz) immer auch eine subjektive Komponente besitzt. Dies impliziert, dass laute Geräusche an und für sich keinesfalls zwingend mit dem Begriff „Lärm“ konnotiert sind (wie die meisten Besucher von Diskotheken bestätigen werden); erst, wenn das Geräusch als unangenehm, unerwünscht empfunden wird, wird es als Lärm erlebt. Umgekehrt muss Lärm nicht in ohrenbetäubenden Dimensionen stattfinden, um als solcher wahrgenommen zu werden.

Wenden wir uns zuerst der objektiven Komponente des Kinderlärms zu. Hier sind zuallererst zwei Dinge festzuhalten: Erstens – Kinder können unbestritten laut sein, d.h. Geräusche mit hohen Dezi-belwerten erzeugen (Kinderlärm wird zusammen mit starkem Straßenlärmbei mit rund 80 Dezibel angegeben (vgl. z.B. http://www.swr.de/swrinfo/-/id=7612/cat=1/pic=5/nid=7612/did=7643542/pv=gallery/hpy2if/index.html)). Zweitens - der Fre-quenzbereich, für den das menschliche Ohr die höchste Empfindlichkeit aufweist, liegt etwa zwischen 2000 und 4000 Hertz. Gleichzeitig werden Geräusche in diesem Frequenzbereich auch als besonders unangenehm erlebt und sind geeignet, den Körper in einen Stresszustand zu versetzen. Die mensch-liche Sprache ist im Frequenzbereich von 150 bis 7000 Hertz angesiedelt. Die Wahrscheinlichkeit dürfte nicht so gering sein, dass lebhaft spielende Kinder gnadenlos den „kritischen“ Frequenzbereich treffen. Für schrilles Schreien, Quietschen und Kreischen, aber auch für Sirenen – also für alles, was als Warnung vor Bedrohung oder auch als Hilfeschrei interpretiert werden kann – trifft dies in der Re-gel zu. In einer Studie, in der Menschen 34 unangenehme Geräusche bewerten sollten, rangierten Babygeschrei und schrilles Kreischen an dritter Stelle (vgl. Trevor 2007).

Auch wer über ein entspanntes Verhältnis zu kindlichen Lautäußerungen in gehobener Laut-stärke verfügt, wird zugeben, dass z.B. das Schreien eines Säuglings nicht sehr gut mit einem Zustand der Entspannung vereinbar ist – und dies aus gutem Grund!

Die biologische Sinnhaftigkeit des Kinderlärms

Kinderlärm, vor allem, wenn er als Geschrei in Erscheinung tritt, alarmiert, zieht die Aufmerk-samkeit unweigerlich auf sich, dringt in seiner Helligkeit und Klarheit beharrlich und erbar-mungslos ins Bewusstsein. Todt (1988; Todt et al. 1995) bezeichnet das Schreien von Pri-matenkindern, als besonders effektives Signalverhalten, was nicht zuletzt in seiner dynami-schen Struktur begründet liegt, die einen Gewöhnungseffekt verhindert. Dabei sind es vor allem die auf große Distanzen wirkenden, hochfrequenten Lautmerkmale des Protestge-schreis, die „wie eine Alarmsirene weithin hörbar sind“ (Ahnert 2004). Das Protestschreien gilt als besonders erfolgreiche Strategie, da es die Wahrscheinlichkeit, versorgt zu werden, unmittelbar erhöht (ebenda), was bedeutet, dass diese Signalwirkung evolutionsbiologisch betrachtet von großer Sinnhaftigkeit ist.

Für Kinder ist es überlebensnotwendig, durch ihre Lautäußerungen, durch Rufen und Schreien auf sich aufmerksam machen zu können. Kinderstimmen müssen sich vom Alltags-lärm abheben, müssen aus der Klangwolke, von der wir umgeben sind, hervorstechen, müs-sen imstande sein, die Aufmerksamkeit eines Erwachsenen von allen anderen Dingen abzu-ziehen und sich selbst zum Fokus zu machen. Je jünger das Kind ist, je weniger es für sich selbst sorgen kann, desto sinnvoller und notwendiger erweist sich diese Fähigkeit. Wer jemals das durchdringende Schreien eines Säuglings vernommen hat, weiß, dass nur wenige Geräusche und Lautäußerungen mit dieser kleinen „menschlichen Lärmquelle“ konkurrieren können.

Auch die Lautäußerungen älterer Kinder beinhalten noch zahlreiche Elemente dieser biologi-schen Signalwirkung. So ist Kinderlärm zumeist durch eine Dynamik geprägt (was einer Ha-bituation, die durch gleichförmige Geräusche ermöglicht wird, entgegenläuft) und oft auch von hochfrequenten Elementen (Kreischen, schrilles Schreien) durchdrungen. Zudem ist, wie bereits angesprochen, die Lautstärke keinesfalls zu unterschätzen. Auch wenn es mit fünf, sieben oder zehn Jahren nicht mehr primär darum geht, durch lautes Herbeischreien von Erwachsenen das eigene Überleben zu sichern, weist der „Lärm“, den ältere Kinder erzeugen, eine weitere biologischer Sinnhaftigkeit auf: Spielen und Herumtoben mit anderen Kindern sind ein wesentlicher Bestandteil einer gesunden kindlichen Entwicklung in motorischer, kognitiver und sozialer Hinsicht.

Auch wenn das Ruhebedürfnis der Erwachsenen zuweilen vehement Genugtuung verlangt, so scheint intuitiv doch ein gewisser Konsens über das angeborene Bewegungs- und Spiel-bedürfnis von Kindern zu bestehen, dem auch bis zu einem gewissen Grad Rechnung getra-gen werden muss. Das „Recht auf Spiel“ ist auch in den UN Kinderrechtskonventionen (Arti-kel 31) festgelegt. Und es versteht sich von selbst, dass dieses Recht nicht nur erwachse-nengenehme, sprich „geräuscharme“ Spiele wie Schach oder „Stille Post“ einschließen oder generell mit einem Anspruch auf eine möglichst geringe Lautstärke verknüpft sein kann. Kindliches Spielen und Herumtoben beinhaltet stets auch einen gewissen Lärmfaktor. Nahezu lautlos spielende, sich gemächlich bewegende Kinder auf einem Spielplatz – eine ge-spenstische Vorstellung…

Kinderlärm hat, wie eben gezeigt, also durchaus das Potential, ja in gewisser Hinsicht zum Teil sogar die evolutionsbiologische Intention, „störend“ (alarmierend) zu sein. Allerdings gibt es durchaus eine Reihe von Menschen, die spielende Kinder nicht primär als Lärmquellen, die möglichst rasch und konsequent abzustellen sind, erleben, sondern sich an der auch akustisch deutlich bemerkbaren Lebendigkeit von Kindern erfreuen. Dies führt uns zur ein-gangs erwähnten subjektiven Komponente des Lärms. So ist wohl den meisten aus eigener Erfahrung bekannt, dass das Summen einer Fliege oder das Ticken einer Uhr (ca. 20 Dezi-bel) als unerträglicher Lärm erscheinen kann, wenn es gerade ein Uhr in der Früh ist und man verzweifelt versucht einzuschlafen. Dies verweist darauf, dass es auch von der Tätigkeit, die wir gerade durchführen (wollen) abhängt, als wie störend Geräusche an und für sich wahrgenommen werden. Umgekehrt wird objektiv gesundheitlich höchst bedenklicher Lärm mit einem Schalldruck von 120 Dezibel, wie er etwa in Discotheken und bei Rockkonzerten die Regel ist, von zahlreichen Menschen keinesfalls als unangenehm erlebt, sondern sogar aktiv aufgesucht und als höchst positives Sinneserlebnis abgespeichert.

In dieser Hinsicht ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die Wahrnehmung von Kinder-lärm auch mit der generellen Einstellung zu Kindern zu tun hat. Dies bedeutet nun nicht, dass jede Person, die Dauergetrampel im darüber liegenden Stockwerk als wenig schlaffördernd empfindet, eine Abneigung gegen Kinder besitzt. Wenn jedoch beispielsweise Personen im Vorfeld aufgrund der zu erwarteten Lärmbelästigung vehement gegen den Bau eines Kindergartens in Wohnnähe protestieren, so kommt man nicht umhin, eine ablehnende Hal-tung gegen Kinder grundsätzlich zu unterstellen.

Sind wir heute weniger tolerant gegenüber Kinderlärm als zu früheren Zeiten?

Vieles scheint dafür zu sprechen, dass die oftmals geringe Toleranz gegenüber Kinderlärm vor allem ein Phänomen unserer Zeit ist: die generelle Lärmbelastung durch Industrie und Verkehr, die sich noch viel schwieriger „abstellen“ lässt als der durch Kinder verursachte Lärm, ungünstige bauliche Gegebenheiten, die die Lärmproblematik noch verstärken und nicht zuletzt die in den letzten Jahrzehnten deutlich gewachsene Einschränkung des kindli-chen Erfahrungsraumes in der Natur (weit weg von lärmempfindlichen Erwachsenen),…all diese Dinge tragen sicherlich nicht zur Entspannung der Lage bei.

Allerdings hat sich die Problematik des Umweltlärms schon sehr viel früher entwickelt und ist in Zusammenhang mit der zunehmenden Industrialisierung um die Jahrhundertwende (19./20. Jahrhundert) zu sehen, die vor allem in den Städten zu einer zuvor nicht bekannten Lärmbelastung führte. So ist es wohl kein Zufall, dass bereits vor mehr als hundert Jahren neben sonstigem durch Menschen verursachten Lärm auch Kinderlärm zum Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen wurde.

„Auch Teppichklopfen sowie Kinderlärm im Hof oder in den Treppenhäusern empfanden im ausge-henden 19. Jahrhundert viele Menschen zunehmend als lästig, wie zahlreiche Beschwerden und ge-richtliche Auseinandersetzungen zeigen“ (Robert Jütte (2000): Geschichte der Sinne; S.223)

Der Anspruch, dass Kinder sich so ruhig wie nur möglich verhalten sollen, ist auf jeden Fall keineswegs kennzeichnend für die heutige Zeit. Im Gegenteil – während Kindern heute sogar von juristischer Seite das Recht auf „Lärm“ bis zu einem gewissen Grad zugestanden wird, bestand im Rahmen der flächendeckend praktizierten autoritären Erziehung Konsens darüber, dass man Kinder „nur sehen, aber nicht hören“ sollte. Interessanterweise stammt dieser Ausspruch, dessen zeitlichen Ursprung man intuitiv wohl eher später einschätzen würde, eigentlich von einem Augustinermönch im England des 15. Jahrhunderts (Vgl. dazu: www.phrases.org.uk/meanings/children-should-be-seen-and-not-heard.html):

„Hyt ys old Englysch sawe: A mayde schuld be seen, but not herd.”

„Sawe“ bezeichnet ein Sprichwort, „mayde“ ist nicht nur als Mädchen, sondern generell als Kind zu interpretieren (Dennoch weist der Begriff durchaus auch darauf hin, dass nicht nur die Äußerungen von Kindern, sondern auch von Frauen als weitgehend verzichtbar angese-hen wurden.). Und die Tatsache, dass es sich um ein „altes englisches Sprichwort“ handelt, lässt den Schluss zu, dass die entsprechende Einstellung noch auf deutlich frühere Zeiten zurückgeht.

Was (Kinder)lärm mit Macht zu tun hat
Warum aber hatten Erwachsene offenbar schon vor Jahrhunderten den Anspruch, dass Kinder still sein müssen? War Kinderlärm – etwa aufgrund der Lautstärke und der oben erwähnten physiologisch und evolutionsbiologisch begründeten Besonderheiten – immer schon einfach nur „lästig“?

Auf diese Frage geben Anthropologen und Historiker eine bemerkenswerte Antwort:

„Das Grundmuster dieser Symbolik besteht darin, dass, wie Anthropologen und Historiker gezeigt haben, laute Geräusche im Falle einer positiven Bewertung mit Eigenschaften versehen wurden wie Macht, Stärke, Fortschritt, Wohlstand, Energie, Dynamik, Männlichkeit und Kontrolle. Doch die gleichen Geräusche wurden, wenn sie unerwünscht waren und man sie somit als ‚Lärm‘ bezeichnete, als absichtliche Störung der sozialen Ordnung angesehen, verursacht oft von jenen, die in der Hierarchie tiefer standen. […] Das Recht, Lärm zu machen, war lange Zeit das Privileg der Mächtigen, während Menschen von niedrigerem Rang (Frauen, Kinder, Diener) zur Ruhe angehalten wurden oder unter Verdacht standen, die soziale Ordnung absichtlich durch Lärm zu stören..“ (Bijsterveld 2001:44,60f; übersetzt und zitiert in: Payer S.14/15)

Lärm hat also in gewisser Weise auch mit Macht zu tun, und unser Verhältnis zum Kinder-lärm sagt insofern auch immer ein bisschen etwas darüber aus, wie viel Macht wir Kindern (auch unbewusst) zugestehen. Ob wir überhaupt wollen, dass Kinder eine Stimme haben. Auch wenn diese manchmal etwas lauter sein kann.

Literatur:
Ahnert, Lieselotte; Maywald, Jörg (Hg.) (2004): Frühe Bindung. Entstehung und Entwicklung. Mün-chen.
Jütte, Robert (2000): Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace. Ch. Beck.
Payer, Peter (2003): Vom Geräusch zum Lärm. Zur Geschichte des Hörens im 19. und frühen 20. Jahrhunderts.In: Wolfram Aichinger/Franz X. Eder/Claudia Leitner (Hg.): Sinne und Erfahrung in der Geschichte. Innsbruck-Wien-München-Bozen 2003, S. 173-191.
Todt, D. (1988): Serial calling as a mediator of interaction process: Crying in primates. In D. Todt, PB. Goedeking & D. Symmes (Eds): Primate vocal coummunication (S. 88-107). Heidelberg.
Todt, D. (1995): Aspekte der Entwicklung sozialer Bindungen auf vormenschlicher Stufe. In: Spangler und Zimmermann (1995), S.21-39.
Trevor. J. Cox, 'Bad vibes: an investigation into the worst sounds in the world,' PPA-09-003, proc. 19th ICA Madrid. (2007).