Wenn Kinder einen Elternteil verlieren - Akutbetreuung und erste Stabilisierung durch das AKUTeam NÖ

In einem kleinen Ort im Weinviertel verunglückt eine 37-jährige Frau mit dem PKW schwer und wird mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht. Sie liegt im Koma, die Prognose ist ungewiss. Die Frau lebte mit ihren beiden kleinen Söhnen, 7 und 9 Jahre alt, in einer kleinen Wohnung im Ort. Die Familie ist finanziell sehr schlecht gestellt, sie zog vor 3 Jahren nach dem plötzlichen Tod des Vaters an einem Herzinfarkt aus Wien in diesen Ort, da die Mutter dort aufgewachsen und gut sozial integriert ist. Es gibt keine Großeltern oder sonstige Verwandte der Familie mehr. Die Buben sind im Fußballklub und bei den Pfadfindern aktiv und haben viele Freunde.
Die Kinder sind während des Unfalls in der Schule, die Nachricht vom Unfall verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Eine Welle der Hilfsbereitschaft rollt an, etliche Familien im Ort bieten an, die Kinder für einige Zeit zu beherbergen. Auch eine gute Freundin der Mutter, die ebenfalls im Ort wohnt, und selbst zwei Kinder hat, bietet an, die Kinder zu sich zu nehmen. Jedenfalls will niemand, dass die Kinder in ein Heim kommen. Die Direktorin und eine Lehrerin behalten die Kinder unter einem Vorwand einmal bei sich. Die Polizei und das Jugendamt sollen die Kinder informieren und erste Maßnahmen ergreifen. Sie alarmieren über Notruf 144 das AKUTteam Niederösterreich zur Unterstützung.
(kein realer Fall, Fallgeschichte wurde aus typischen Problemstellungen zusammengestellt)

Was bietet das AKUTteam an?

Das AKUTteam Niederösterreich, ein Service der NÖ Landesakademie, unterstützt mit seinen psychologischen und psychotherapeutischen Fachkräften Betroffene durch Einsätze vor Ort sowie mit Fachkräften aus dem Bereich der Sozialarbeit im Hintergrund in den ersten Stunden, Tagen und Wochen nach Schicksalsschlägen oder in akuten Krisensituationen. Es entstehen den Betroffenen keine Kosten, diese werden vom Land Niederösterreich getragen. Besonders bei Ereignissen, von denen Kinder als Hinterbliebene, oder auch Verletzte und Verstorbene betroffen sind, ist das Umfeld selbst höchst alarmiert, verunsichert und überfordert. Die erste Reaktion ist: Eine solche Situation dürfte eigentlich Kindern nicht zustoßen! Eigene Urängste tauchen auf und verhindern ein sicheres und authentisches Auftreten den betroffenen Kindern gegenüber. Es entstehen im Umfeld oft Impulse, das Geschehene ungeschehen machen zu wollen oder vor den Kindern herunterzuspielen oder zu verschweigen. Es wird als schwierig erlebt, die richtigen Worte zu finden. In solchen Situationen wird die professionelle Unterstützung und Beratung der erwachsenen Bezugspersonen durch das AKUTteam als sehr hilfreich und stabilisierend empfunden, denn nur stabile Bezugspersonen können Kindern in solchen Situationen schützend beistehen.

Wie reagieren Kinder?

Für diese beiden Kinder stellt die Situation eine Wiederholung von schon Erlebtem dar. Auch der Vater wurde ohne Vorwarnung aus ihrem Alltag gerissen und auf die Intensivstation eingeliefert. Er starb nach wenigen Tagen. Die Kinder, damals 4 und 6 Jahre alt, haben ihn lebend nicht mehr gesehen. Diese Vorerfahrung hat mit Sicherheit Einfluss auf ihre jetzige Reaktion. Haben sie damals erlebt, dass es nach Verlust, Trauer und Trennung mithilfe einer stabilen und sicheren Bezugsperson auch wieder weiter gehen und zu einem guten Neubeginn kommen kann, so wird ihnen diese Vorerfahrung nützen. Haben sie damals Chaos, Angst und Hilflosigkeit der Bezugsperson(en) erlebt, wurden sie angelogen und in Unwissenheit gehalten, so werden sie diesmal wieder in diese Gefühlslage zurückfallen und entsprechend mehr Probleme haben, die Situation zu bewältigen.
Kinder reagieren anders. Sie zeigen in verschiedenen Altersphasen unterschiedliche Vorstellungen und Reaktionsweisen nach Begegnung mit Sterben und Tod. Kinder reagieren viel spontaner, sprunghafter, Gefühlschwankungen sind wesentlich stärker als bei Erwachsenen und können in wesentlich rascherer Abfolge auftreten. (Bogyi (2003) : 20)
So kann ein Kind plötzlich in frühere Verhaltensweisen zurückfallen und wieder einen Schnuller verlangen, daumenlutschen oder einnässen. Es kann sich verhalten, als ob nichts geschehen wäre und keine der erwarteten Reaktionen zeigen. Es kann plötzlich übertrieben fröhlich und hektisch herumtollen und Witze machen und damit die Erwachsenen völlig verunsichern. Verschiedenste körperliche Reaktionen können auftreten, wie Erbrechen, Durchfall, Schmerzen, herabgesetzte Abwehrkraft gegen Infektionen,… Eine typische Reaktion ist auch Angst, z.B. Angst vor weiteren Verlusten, vor dem Alleinsein, Angst im Dunkeln zu schlafen, Angst selbst zu sterben. Wut ist ebenfalls ein häufiger Bestandteil der Trauerarbeit, bei Kindern oft unmittelbarer und direkter. Sie haben Wut auf den/die Verstorbenen oder Schwerverletzten, weil er/ sie sie im Stich lässt. Manchmal wird die verlorene Person auch entwertet, um den Schmerz nicht in all seiner Wucht spüren zu müssen. (Bogyi (2003) : 20)
Hier ist zu sagen, dass es sich grundsätzlich empfiehlt, solche Verhaltensweisen als normale Reaktionen auf eine außergewöhnliche Situation zu sehen. Alle diese Reaktionen sind als Abwehr- und Schutzmechanismen zunächst einmal gut und für das Kind erforderlich, um alle Kräfte zu sammeln und sich dann mit der Realität und seiner eigenen Trauer und Emotion auseinanderzusetzen. Problematisch wird es erst, wenn sich Symptome durch längere Zeit fortsetzen und eine Bewältigung und Besserung nicht eintritt. In diesem Fall sollte professioneller Rat eingeholt werden.

Was brauchen Kinder in einer solchen Situation am meisten?
Was Kinder immer und besonders in Krisensituationen brauchen, ist in wenigen Worten zusammengefasst:
Sicherheit, Halt, Ehrlichkeit, Authentizität; Stabile Bezugspunkte und –personen,

„Wichtigster Grundsatz in der Krisenbegleitung mit Kindern und Jugendlichen ist, dass sie die Wahrheit viel besser ertragen können als beschönigende Lügen.“ (Bogyi (2003) : 26)
Erwachsene sollen daher bei der Frage: „Wie sage ich es dem Kind?“, immer ehrlich und offen sein. Auch eigene Emotionen wie Trauer und Schmerz dürfen dabei gezeigt werden. Sie geben dem Kind die Sicherheit, zu seinen eigenen Emotionen zu finden und Trauer zuzulassen. Unwahrheiten oder unvollständige Informationen lassen mehr Raum für eigene Fantasien und Ängste. Den Kindern sollte in einfacher, dem Alter entsprechender Sprache ehrlich über das Ereignis Auskunft gegeben und danach Gesprächsbereitschaft gezeigt werden. Es ist wichtig, alle auftauchenden Fragen offen zu beantworten, ohne sich aufzudrängen.

Bei einer ersten Stabilisierung ist ganzheitlich immer an alle körperlichen, psychischen und sozialen Aspekte der Betroffenen zu denken.
Daraus ergeben sich direkt die ersten Schritte für eine hilfreiche Unterstützung und Begleitung.
Körperliche Bedürfnisse und Probleme dürfen niemals vergessen werden. Haben die Kinder etwas zu essen bekommen? Sind sie erschöpft, wirken sie krank, haben sie es warm?
Wo werden sie schlafen, welche Rituale hatten sie mit der Mutter beim Schlafengehen, Frühstücken, Aufgabeschreiben,…

In unserem Fall gibt es für die Kinder grundsätzlich ein soziales Netz und fixe Bezugspunkte. Sie sollten möglichst rasch in einen Alltag zurück können, in dem sich viele Elemente aus dem „Leben davor“ fortsetzen: Schule, Freunde, Fußball, Pfadfinder, Wohnort,…Das Angebot der guten Freundin, die Kinder zu sich zu nehmen würde fürs erste das Behalten dieser unveränderten Bezugspunkte gewährleisten.

Der ältere Bub möchte auch die Mutter möglichst bald besuchen. Die Freundin der Mutter war schon im Krankenhaus und hat festgestellt, dass die Mutter im Gesicht entstellt und auf der Intensivstation mit all den Geräten und Infusionsschläuchen beängstigend aussah. Kann man das den Kindern zumuten? Hier hilft das AKUTteam bei der Entscheidung und Vorbereitung der Kinder auf den Besuch, der bei guter Begleitung grundsätzlich für die Kinder sehr hilfreich ist.

Da die einzige sorgeberechtige Person, die Mutter, ausgefallen und derzeit nicht handlungsfähig ist, hat in diesem Fall das Jugendamt die Obsorge zu übernehmen und unaufschiebbare Maßnahmen zu treffen. Das Pflegschaftsgericht wird in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt im weiteren Verlauf über die Obsorge und den Verbleib der Kinder entscheiden.
Während die vorübergehende Unterbringung bei der Freundin im Moment für die Kinder sicher das Beste ist, ist für den Fall der längerfristigen Pflegebedürftigkeit oder des Todes der Mutter abzuklären, ob die Freundin die Kinder neben ihren beiden Kindern wirklich dauerhaft in Pflege nehmen oder adoptieren will und soll. Eventuell müsste die Familie der Freundin in eine größere Wohnung umziehen, die Kinder der Freundin könnten mit Eifersucht und Überforderung reagieren. Oft ergeben sich auch aktuell finanzielle Probleme, wie schaut es mit finanziellen Ansprüchen der Kinder aus, wer bekommt Familienbeihilfe, gibt es eine Waisenpension vom Vater, Krankengeld von der Mutter? Wovon sollen dringende Anschaffungen für die Kinder bezahlt werden, was passiert mit der Wohnung, der Miete, der Stromrechnung, den laufenden Krediten der Mutter? Aber auch: Wo bekommen die nun schon mehrfach traumatisierten Kinder altersentsprechende Traumatherapie, zu welchem Zeitpunkt ist diese überhaupt sinnvoll und wie schaut es mit den Kosten aus? Hier kann das AKUTteam bei der Planung unterstützen, bei Entscheidungen beraten und auf mögliche Probleme und Lösungen hinweisen, den Kontakt zu den Behörden wie dem Jugendamt herstellen, bei der Suche nach geeigneten Hilfsangeboten unterstützen und an geeignete TherapeutInnen oder Institutionen weitervermitteln.

Wie wird die Unterstützung durch das AKUTteam NÖ angefordert?

Das AKUTteam wird über die Rettungsleitstelle in Niederösterreich unter der Telefonnummer (02742)144 Notruf Niederösterreich angefordert. Es sollte beim Disponenten kurz der Vorfall, der Betreuungswunsch, der vorgesehene Betreuungsort und eine Rückrufnummer bekannt gegeben und das AKUTteam verlangt werden. Aufgrund dieser Alarmierung ist nicht zu befürchten, dass ohne Rücksprache sofort jemand vor der Tür steht, ohne die speziellen Bedürfnisse der Betroffenen vorher abzuklären: Der Journaldienst ruft immer zunächst an der angegeben Nummer zurück und vereinbart die weitere Vorgehensweise (wer, wie, wo, wann,…) Unsere Fachkraft kann in der Regel etwa binnen 1 ½ Stunden vor Ort sein. Es können aber auch einfach Infos eingeholt oder die weitere Betreuung in anderer Form, Termine für den Abend, den nächsten Tag etc. vereinbart werden.

Mag. Elisabeth Weber-Schigutt,
Sozialarbeiterin und Juristin,
Leitung-Stv. des AKUTteams Niederösterreich
Informationen unter www.akutteam.at

Verwendete Literatur:

Bogyi Gertrude, Perko Gabriele, Voithleitner Ursula (2003): Seelische Hilfe für Kinder und Jugendliche, Krisenintervention nach traumatischen Erlebnissen (Fortbildungsunterlage – AKUTteam)

Hausmann Clemens (2003): Handbuch Notfallpsychologie und Traumabewältigung. Grundlagen, Interventionen, Versorgungsstandards. Wien: Facultas

Van der Kolk Bessel, McFarlane Alexander, Weisaeth Lars (2000): Traumatic Stress, Grundlagen und Behandlungsansätze,Theorie, Praxis und Forschung zu posttraumatischem Stress sowie Traumatherapie. Paderborn: Junfermann