Was ist eine gute Erziehung? Grundfragen statt Grundlagen – eine Pädagogik der Achtung nach Janusz Korczak

Anfang August 1942 wurde der polnisch-jüdische Pädagoge Janusz Korczak gemeinsam mit seinen Mitarbeiterinnen und 200 jüdischen Waisenkindern aus dem Warschauer Ghetto ins Vernichtungslager Treblinka abtransportiert und dort getötet.
Sie teilten das Schicksal mit 6 Millionen Juden, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Wer war dieser Mann? Was können wir von seiner Haltung Kindern gegenüber lernen?

Gerade im Zusammenhang mit zeitgemäßen Fragen zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention und der Rolle des Kindes, aber auch zu Fragen nach dem, was eine „gute Erziehung sein könnte“  können uns Janusz Korczaks Überlegungen zum Leben, zur Erziehung und zur Beziehung weiterhelfen.
So sagen meine Studierenden, die mit Leben und Werk des Arztes, Pädagogen und Waisenhausvaters Janusz Korczak in unseren Seminaren in Berührung gekommen sind, er mache Mut, er gebe Visionen von einem gelingenden Leben, sie bekämen Hilfestellungen für die eigene Praxis. Von ihm könne man aber auch  lernen, das Scheitern in der Praxis nicht als Niederlage zu verstehen, sondern es als Anlass zur Selbstreflexion und Selbsterziehung zu nehmen.

 „Oh, ich liebkose diese Kinder mit meinen Blicken, mit meinen Gedanken und der Frage: Wer seid ihr, wunderbares Geheimnis, und was verbirgt sich in euch?
Ich bin ihnen gut in dem Bemühen: womit kann ich euch helfen?.“
( Korczak, J., WKls,  S.36)
Dieses Zitat aus Korczaks pädagogischer Schrift: „Wie man ein Kind lieben soll“, vermittelt einen Eindruck von seiner Annäherung an das Kind. Zum einen wird spürbar, wie er sich als Fragender, Suchender und Beobachtender dem Kind nähert, um es zu verstehen; zum anderen wird damit gerechnet, dass sich das Kind entzieht, geheimnisvoll, unplanbar und unkontrollierbar bleibt.
Das Kind wird nicht zum „Forschungsobjekt“ degradiert, sondern als Subjekt, als eigenständiges Wesen in seiner Einmaligkeit ernst genommen.

Korczak versuchte das Leben selbst in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen wahrzunehmen, zu achten, sich einzufühlen und zu verstehen. Praxis und Theorie gehören für Korczak untrennbar zusammen. Wer also in Korczaks Schriften nach der pädagogischen Theorie sucht, wird enttäuscht werden.
 „Nein, nein- und nein! Ich glaube nicht an den Wert einer sorgfältigen Erziehung, ich glaube nicht an die Bedeutung der pädagogischen Grundsätze“ (Korczak, J., 1978, S.96)


Korczak hat die Gefahr der Pädagogisierung schon sehr früh erkannt und vor den Psychologen und Pädagogen gewarnt, die der intentionalen Erziehung und formalen Erziehung einen zu hohen Stellenwert einräumen:
Für Korczak war als Arzt und Naturwissenschaftler eine exakte Beobachtung die Voraussetzung für jegliche Diagnostik. Während seines gesamten Berufslebens als Heimerzieher sammelte er unzählige Daten und notierte sie täglich sorgfältig, um aus der eigenen Beobachtung heraus zu neuen Erkenntnissen zu kommen. So notierte er nicht nur die Größe und das Gewicht oder die Krankheiten der Kinder, sondern auch ihr Verhalten (Schlägereien und Tränen) und entwickelte kreativ Statistiken zu dem beobachteten Phänomen, z. B. gab es eine Kurve zur Häufigkeit von Schlägereien.
Korczaks Beobachtungen zielten auf das Verstehen der Symptome ab. Er ist in seinen Deutungen vorsichtig und kommt nie zu einem abschließenden Urteil, da jede Beobachtung eine neue Frage aufwirft. Das "forschende Fragen" ist eine Hauptcharakteristik seiner Arbeitsweise. Es gibt für ihn nicht die Kategorie "Kind", sondern nur das Individuum, das sich immer wieder anders verhält.

Sein Credo war es, die Erfahrungen des Kindes, sein Lebensgeheimnis, seine Gefühle sowohl vor dem Zugriff einer besitzergreifenden Liebe als auch vor den verhängnisvollen Vorstellungen der Erwachsenen zu schützen. Er forderte die Magna Charta Libertatis als ein Grundgesetz für Kinder.
Korczak formulierte die Rechte der Kinder lange bevor 1959 die UN-Deklaration und dann endlich 1989 die UN-Konvention als völkerrechtliches Gesetz Kinderrechte festlegte.

Das Kind durch Rechte zu schützen bedeutete für Korczak in erster Linie, die Erfahrungen des Kindes und damit sein Anderssein, seine Individualität und sein Kindsein zu schützen. „Ich fordere die Magna Charta Libertatis, als ein Grundgesetz für das Kind. Vielleicht gibt es noch andere - aber diese drei Grundrechte habe ich herausgefunden:
a) Das Recht des Kindes auf den Tod.
b) Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag.
c) Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist.“ (Korczak, J., WKls, S.40)


Diese Rechte sollen das Kind vor dem Zugriff der Erwachsenen durch Wissenschaft, Psychologisierung, Pädagogisierung, Scheinliebe und unverhältnismäßigen Leistungsanforderungen schützen. Die Radikalität seiner Forderungen wird meines Erachtens besonders durch den ersten Punkt deutlich. Indem er das Recht auf einen eigenen Tod fordert, stellt er das eigene Leben mit seinen Wagnissen und Risiken in die Eigenverantwortung des Kindes. Erwachsene nehmen Kindern durch ihre Angst und Überfürsorge wesentliche Erfahrungs- und Lebensmöglichkeiten.
Korczak mutet den Erwachsenen zu, eigene Ängste um das Leben des Kindes und eigene Vorstellungen von dem geraden, gefahrlosen Weg in eine glückliche Zukunft des Kindes genau zu überprüfen und, falls nötig, zugunsten neuer Einstellungen zu revidieren. Damit würden die vielfältigen kindlichen Entwicklungsmöglichkeiten geachtet und ihnen Raum gegeben.

Korczak war es Zeit seines Lebens ein Anliegen, Kinder als eigenständige Individuen zu achten. Als Anwalt der Kinder lebte er mit ihnen und entwickelte demokratische Formen von Kindermitbeteiligung und Selbstverwaltung.
So gab es in seinen Waisenhäusern Kindergerichte, eine Kinderzeitung und Selbstverwaltungsgremien.
Korczaks Deklaration von 1918 konnte zu seiner Zeit nicht weiter umgesetzt und realisiert werden. Erst 1959 wurde in der „Erklärung über die Rechte des Kindes„ durch die Vereinten Nationen festgelegt, dass es für Kinder, der menschlichen Würde entsprechend, bürgerliche Rechte gibt. Hierzu gehören die Rechte auf Freiheit, auf Erziehung und Bildung, angemessene Versorgung, Liebe und Zuwendung, als auch der Schutz vor Diskriminierung und Gewalt. Vergleicht man diese zehn Artikel mit dem, was Janusz Korczak bereits vierzig Jahre zuvor gefordert und gelebt hat, muss man enttäuschend feststellen, dass der Anspruch weit hinter Korczak zurückgeblieben ist. Das Recht, als einmaliger Mensch, der keinem Entwurf entsprechen muss, wahrgenommen zu werden, der Geheimnisse und Träume haben darf; das Recht auf Zeit, auf Raum, auf lebendige Umgangserfahrungen, auf Trauer und Schmerz, das Mitspracherecht in allen das Kind betreffenden Lebensbereichen - alle diese Rechte kamen nicht vor.
Janusz Korczak hielt gerade sie aber für unentbehrlich und erachtete es für notwendig, Erwachsene zu verpflichten, diese Rechte einzuhalten. 70 Jahre dauerte es, bis Korczaks Forderung zumindest teilweise realisiert wurde: in einer verbindlichen Rechtsform wurden 1989 einstimmig von der UN-Vollversammlung persönliche, soziale, sittliche, kulturell, partizipative und politische Rechte für Minderjährige verabschiedet. Damit wurde der Kindheit ein eigener Wert eingeräumt und gesetzlich verankert, was Korczak schon Jahrzehnte vorher postuliert und gelebt hatte.

Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Korczak, J.: Wie man ein Kind lieben soll, Göttingen 1967 (WKls)
Korczak, J.: Das Recht des Kindes auf Achtung, Göttingen 1970, 1973 (RaA)
Korczak, J.: Wenn ich wieder klein bin, Göttingen 1973
Korczak, J.: Verteidigt die Kinder, Gütersloh 1978 (VdK)
Korczak, J.: Von Kindern und anderen Vorbildern, Gütersloh 1979 (VKuaV)
Korczak, J.(Hrsg. Dauzenroth, E.): Der kleine Prophet, Gütersloh 1988
Korczak, J.: Sämtliche Werke, Bd. 1: Kinder der Straße. Kinder des Salons. Gütersloh 1996
Abkürzungen:
WKls  - Wie man ein Kind lieben soll
RaA  - Das Recht des Kindes auf Achtung
VdK - Verteidigt die Kinder
VKuaV- Von Kindern und anderen Vorbildern

Sekundärliteratur
Beiner, F. (Hg.): Zweites Wuppertaler Korczak-Kolloquium, Wuppertal 1984,
Beiner, F.: Zur Grundlegung einer Pädagogik der Achtung in: Beiner, F.:(Hrsg.) Janusz Korczak - Pädagogik der Achtung, Heinsberg 1987
Beiner, F. (Hg.): Janusz Korczak - Pädagogik der Achtung, Heinsberg 1987
Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen, Gesundheit (Hg.): Achter Jugendbericht, Bonn 1990
Lifton, B.J.: Der König der Kinder. Das Leben von Janusz Korczak, Stuttgart 1991
Mollenhauer, K.: Vergessene Zusammenhänge, München 1983
Pelzer, W.: Janusz Korczak, Hamburg, 4.Aufl. 1994
Pestalozzi,. J.H., Sämtliche Werke, hrsg. von Seyffarth, L.W., Liegnitz 1896 f, Bd. 9
Tschöpe-Scheffler, S.: Wer seid ihr, unbekanntes Geheimnis? in: Kaminski, W., Tschöpe-Scheffler, S.: Janusz Korczak - Gestern, heute, morgen - Symposium des FB Sozialpädagogik der Fachhochschule Köln, Dokumentation, Köln 1997, S. 24-36
Tschöpe-Scheffler, S.: Perfekte Eltern und funktionierende Kinder? vom Mythos der „richtigen“ Erziehung, Opladen 2006
Tschöpe-Scheffler, S.: Kinder brauchen Wurzeln und Flügel – Erziehung zwischen Bindung und Autonomie, Stuttgart, 2. Auf. 2007