Vom Schmerz des Waisenkindes zum Triumph des Heldens

Was wir von „Star Wars“ und Harry Potter für unser eigenes Leben lernen können

Jede Geschichte ist eine Behauptung über das Leben. Alle großen Erkenntnisse der Menschheit sind in Geschichten gekleidet. Was können wir in diesen Geschichten über Verletzungen lernen?
Die Waisenkindgeschichte ist die archetypische Heldenge- schichte. Das Waisenkind ist das Symbol für eine der Urverletzun- gen des Menschen, das Ausgestoßen-, das Abgelehnt-, das Miss- brauchtwerden. Die Geschichte vom Waisenkind findet sich in der Bibel mit dem Aussetzen von Moses im Weidenkörbchen, bei den Gründern von Rom, Romulus und Remus, und setzt sich fort mit Oliver Twist und Pippi Langstrumpf. Auch die modernen Helden Luke Skywalker und Harry Potter sind Waisenkinder – so wie sogar die Comicfigur Batman. Das von aller Welt ausgesetzte Kind bewältigt aufgrund seiner Fähigkeiten alle scheinbar unlös- baren Herausforderungen, wächst über sich hinaus und erobert die Welt. Das gibt uns Hoffnung, dass auch wir in aussichtslosen Situationen unsere größte Angst, die des Wiederverletztwerdens, bewältigen können.
Die Geschichten von Waisenkindern versprechen uns Trös- tung, gerade in unserer so mit Angst besetzten Zeit. Es ist kein Zufall, dass eine der erfolgreichsten Hilfsorganisationen der Welt die SOS-Kinderdörfer sind. „Holen wir Waisenkinder wieder in unsere Gesellschaft zurück, indem wir ihnen Eltern, Geschwister und ein Zuhause geben.“ Wenige Organisationen können ihren Zweck so einfach formulieren, dass wir uns sofort angesprochen fühlen. Tief in unserem Innersten spüren wir alle den Schmerz von Waisenkindern, weil wir selbst bestimmte Facetten eines kleinen Waisenkindes in uns tragen. Wir wurden schon allein gelassen, fühlten uns hilflos und unser Grundvertrauen in die Welt wurde massiv erschüttert.

Warum Helden immer auf die gleiche Abenteuerreise gehen – und wir mitreisen sollten

Der „Held“ steht im Verständnis von Joseph Campbell immer für die Hauptfigur einer Geschichte, ist daher geschlechtsneutral und kann auch zum Beispiel für ein Fantasiewesen wie den Hobbit Frodo Beutlin in „Der Herr der Ringe“ stehen. Forrest Gump, ein moderner Don Quichotte, zeigt, dass der Held keineswegs ein Krieger sein muss, der seine Prüfungen mit dem Schwert oder zumindest mit seiner Intelligenz meistert. Seine Waffen sind die des unschuldigen Toren – gerade deshalb lieben wir ihn so. Da „Star Wars“, „Harry Potter“ und „Der Herr der Ringe“ durch die Verfilmungen besonders bekannte Beispiele sind, habe ich sie ausgewählt, um die sieben Stufen der archetypischen „Reise des Helden“ zu erklären.

Ich möchte Sie einladen, die klassische Heldenreise zu machen – und dabei Parallelen in Ihrem eigenen Leben zu entdecken. Denken Sie an eine der großen Herausforderungen, die Sie bisher in Ihrem Leben bewältigen mussten, und versuchen Sie in jeder Stufe die Gemeinsamkeit mit Ihrer eigenen Geschichte zu erkennen.

  1. Am Anfang lebt der Held ganz normal in seinem Alltag.

    Luke Skywalker, der Held von „Star Wars“, langweilt sich zu Tode auf der Farm seiner Stiefeltern, Frodo Beutlin aus „Der Herr der Ringe“ lebt unbeschwert in Auenland. Harry Potter wohnt am Beginn seiner Geschichte bei seinen tyrannischen Zieheltern und schläft in einem Schrank.

    In Ihrem Leben kann das ein normaler Büro- oder Routinetag mit Ihren Kindern gewesen sein.
     
  2. Das Abenteuer ruft.

    Der Jedi-Ritter Obi Wan Kenobi fordert Luke Skywalker auf, mit ihm gemeinsam Prinzessin Leia zu retten. Gandalf gibt Frodo den Auftrag, den gefährlichen Ring nach Mordor zu bringen und dort zu vernichten. Harry Potter wird vom Riesen Hagrid der Brief mit der Einladung an die Zauberschule in Hogwarts überreicht.

    Bei Ihnen war das vielleicht ein besonders schwieriger Auftrag, das Angebot für einen neuen Job oder die Nachricht über eine schwere Erkrankung.
     
  3. Der Held weigert sich.

    Gehe immer den Weg, vor dem du die größte Angst hast, dort liegt deine Erneuerung. Doch weder unsere Filmhelden noch wir tun das freiwillig. In dieser Stufe geht es um Angst. Der Held weigert sich mit einer Vielzahl von Ausreden, die Herausforderung anzunehmen. Luke Skywalker lehnt ab, weil er seine Stiefeltern nicht allein lassen kann, kehrt zu seinem Haus zurück und findet diese von den Truppen des Imperators ermordet. Frodo sagt, er sei nur ein schwacher kleiner Hobbit mit großen Füßen und er könne unmöglich den mächtigen Sauron besiegen.

    Im Nachhinein wird uns immer klar, dass wir diesen Ruf gebraucht haben, um aus unserem bisherigen Leben auszubrechen, dass wir gezwungen werden mussten, eine Reise anzutreten, um neue Erfahrungen zu machen.

    Sie können sich sicher noch gut erinnern, warum es viele plausible Argumente gab, nicht ins Unbekannte aufzubrechen. Was hat Sie zögern lassen, sich der Herausforderung gewachsen zu fühlen? Wovor hatten Sie Angst?
     
  4. Der Mentor tritt auf.

    Alle Heldengeschichten haben eine Figur, die an den berühmten Zauberer Merlin an König Artus’ Hof erinnert, der dem Helden beisteht. Bei Luke Skywalker ist das der kleine grüne Yoda, bei Frodo ist es Gandalf und bei Harry Potter Dumbledore. Der Mentor stellt eine der wichtigsten mythologischen Figuren dar. Er steht symbolisch für das Band zwischen Schüler und Lehrer, zwischen Gott und dem Menschen. Wie wir herausfinden werden, spielt der Mentor sowohl in allen realen Biografien in diesem Buch als auch in den wissenschaftlichen Studien eine zentrale Rolle. Es ist eine Lebensweisheit, dass wir einen Mentor benötigen, der uns Rat, Hilfe, Wissen oder auch praktische Fähigkeiten lehrt. Ganz wichtig ist, dass uns der Mentor zwar auf die Prüfungen vorbereitet, er sie uns aber nicht abnehmen kann.

    Wer war Ihr Mentor?
     
  5. Die Prüfung, Feinde und Verbündete

    In „Star Wars“ sind das die zahllosen Begegnungen von Luke mit Darth Vader und die mehrmalige Gefangennahme durch seine Feinde. Aber er findet auch einen unverhofften Verbündeten im Abenteurer Han Solo. Das Auftauchen von unerwarteten Verbündeten, wenn es aussichtslos für den Helden wird, ist typisch für Heldengeschichten, aber auch für unser Leben. Wenn man glaubt, es geht gar nicht mehr weiter, geht es dann doch weiter, wenngleich der Retter vielleicht im Leben nicht immer so attraktiv wie Aragorn in „Der Herr der Ringe“ ist, hoffentlich auch nicht so hässlich wie der Zwerg Gimli. Die unerwarteten Verbündeten lösen nicht die Aufgabe für uns, sie zeigen uns dafür, dass wir bereits alles in uns haben, um die Aufgabe zu bewältigen.

    Die Prüfung entscheidet in den Heldengeschichten meist über Leben und Tod, aber auch im realen Leben darüber, ob wir wie- der aufstehen können oder ob wir liegen bleiben. Jeder, der schon einmal tatsächlich in Todesgefahr war, weiß, dass man sich nie so lebendig fühlt wie in dem Moment, wo man dem Tod ins Auge blickt.

    Danach ist etwas anderes in uns. Im Augenblick der größten Gefahr erkennen wir, dass wir unsere Angst überwinden können und weiterleben. Dieser Reifeprozess macht uns stärker.

    Welche inneren oder äußeren Gegner mussten Sie besiegen? Wer waren unerwartete Verbündete? Was haben Sie durch die Prüfung gelernt, welche neuen Kompetenzen an sich entdeckt, welche Ein- sichten gewonnen?
     
  6. Die Belohnung

    Luke Skywalker erkennt im Laufe der Handlung immer klarer, dass Darth Vader sein eigener Vater ist und kann sich vor dessen Tod mit ihm versöhnen. Der Held wird nach der letzten Prüfung damit belohnt, dass er den Schatz bekommt. Das kann die Erlösung eines ganzen leidenden Reichs sein wie im Gral, ein besonderes Schwert oder auch Zugang zu geheimem Wissen.

    Was war Ihre Belohnung nach der bestandenen Herausforderung? Profitieren Sie heute noch davon?
     
  7. Die Rückkehr des Helden

    Am Ende der Geschichte kehrt der Held wieder in den Alltag zurück. Aber er ist verändert, er hat die Kluft zwischen dem, was er war, und dem, was er sein könnte, kleiner gemacht – und ist da- durch gewachsen.

    Was hat sich an Ihnen verändert, als Sie wieder in Ihre normale Welt zurückgekehrt sind?

    Am Anfang ist immer die Verletzung, die den Helden antreibt

    In all den beschriebenen Geschichten erkennen wir langsam im Laufe der Handlung, dass dem Helden, schon bevor die Geschichte begonnen hat, eine schwere Verletzung zugefügt wurde. Am deutlichsten wird das bei Harry Potter, dessen Eltern von seinem Hauptfeind Voldemort ermordet wurden und der ihm die Verletzung sogar auf seine Stirn gezeichnet hat, sichtbar. Luke Skywalker weiß nicht, dass er auch die Gene der dunklen Seite der Macht in sich trägt, weil sein Vater eine verbotene Beziehung mit seiner Mutter eingegangen war. Die ganze Kraft, die die Helden durch die Geschichte treibt, kommt aus deren Verletzungen. Sie können diese Urverletzung der Helden beliebig weiterdenken mit Cinderella, Odysseus, König Artus, Oliver Twist, Pippi Langstrumpf und so weiter. Dem Helden wird meist erst am Schluss der Handlung bewusst, was ihn so ungemein antreibt – manch- mal gar nicht.

    In dem Augenblick, wo der Held aber erkennt, welchen Sinn seine Verletzung in seinem Leben hat, kann er sie erfolgreich in sein Leben integrieren. Sein Leben hat dann plötzlich Sinn, und ein sinnvolles Leben ist immer auch ein erfülltes Leben.

    In unserem eigenen Leben geht es darum, uns selbst kennen- zulernen, die eigenen Beschädigungen zu verstehen, daraus zu lernen, um uns weiterzuentwickeln. So haben wir die Chance, zu verhindern, dass starke negative Kräfte eines Tages die Macht über unser Leben ergreifen und wir mehr getrieben werden, als wir selbst steuern können.

Was wir aus der Reise des Helden für unser eigenes Leben lernen können

  1. Verletzungen sind ein wesentlicher Teil unseres Lebens.
    Alle Menschen tragen eine Verletzung mit sich. Wir sind weder die Ersten noch die Einzigen, die gezeichnet von dieser Verletzung einen langen Weg gehen müssen. Wir sind auch nicht schuld an dieser Verletzung. Wir müssen diesen Weg aber nicht allein gehen. Wir können von denen lernen, die diesen Weg schon seit Tausenden von Jahren gegangen und deren Erfahrungen in Geschichten festgehalten sind. Dieses Wissen wurde früher an den Lagerfeuern von Generation zu Generation weitergegeben. Danach gab es Bücher und Filme.
     
  2. Verletzungen in unserem Leben haben einen Sinn.
    Verletzungen gehören zu den stärksten Antriebskräften in unserem Leben. Sie haben einen Sinn, hinter dem unsere Lebensaufgabe steht. Es liegt an uns, diesen tieferen Sinn im Laufe unseres Lebens zu entdecken und in unsere Lebensgeschichte zu integrieren. Machen wir aus unserem Leben eine Geschichte, viele Geschichten – und das Leben wird besser sein.
     
  3. Wir verlassen nicht freiwillig den Pfad unserer Gewohnheiten und unser geschütztes Heim.
    Wie in jeder fiktiven Heldengeschichte brechen wir nicht freiwillig aus unserem gewohnten Alltag aus, um uns unbekannten Gefahren auszusetzen. Im Gegenteil, wir wehren uns so lange wie möglich dagegen. Wir werden durch äußere Kräfte dazu gezwungen, aufzubrechen und uns Prüfungen oder Gefahren zu stellen.
     
  4. Der Sinn von Prüfungen ist die Konfrontation mit unserer Angst, dort wieder verletzt zu werden, wo es am meisten schmerzt.
    Erst wenn wir uns der Verletzung stellen, erleben wir, dass wir nicht daran zugrunde gehen. Wir erleben den Schmerz wieder, wir müssen nicht sterben, wir können die Angst überwinden, wir überleben. Diese Erfahrung macht uns freier.
     
  5. Das wahre Ziel jeder Heldenreise ist nicht, anzukommen, sondern die Suche nach dem höheren Selbst.
    Harry Potter musste als Waisenkind viel Zeit in Einsamkeit verbringen, eines seiner größten Talente liegt in der Fähigkeit, Freunde zu finden – er entwickelt hohe soziale Kompetenzen. Er wird von seinem Onkel und seiner Tante gegenüber seinem Cousin extrem ungerecht behandelt – er entfaltet ein hohes Verantwortungsgefühl für andere. Als Waisenkind ist ihm bewusst, dass es viel Leid und Schmerz gibt – daher kämpft er für eine bessere Welt.

    Erfolg auf der Reise heißt, den Unterschied zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir sein könnten, zu verringern. Wären wir nicht gezwungen gewesen, aufzubrechen, hätten wir uns nie unserer Verletzung gestellt und auch nicht neue Kompetenzen in uns entdecken können. Das erkennen wir natürlich erst, wenn wir wieder an den Anfang zurückgekehrt sind. Der Kreis hat sich geschlossen. Wir sind bereit, zur nächsten Reise aufzubrechen, aber wir sind stärker, erfahrener und haben weniger Angst.


„Was nützt es uns, zum Mond zu fliegen,
wenn wir die Kluft, die uns von uns selbst trennt, nicht überwinden können.
Das ist die wichtigste aller Entdeckungsreisen, und ohne sie sind alle übrigen nutzlos.“
Antoine de Saint-Exupéry


Literatur:
1. Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt am Main, Insel 1999
2. Carol S. Pearson: Awakening the Heros Within, New York, Harper 1991, S. 49 ff.