Vom „NEIN – Sagen“ zum „NEIN – Gefühl“ spüren

Inhaltliche Veränderungen von Gewaltpräventionsprojekten im Laufe der Kinderschutzarbeit der letzten 20 Jahre

Wenn von Kindern verlangt wird, sich in Situationen der Ohnmacht mit einem „NEIN“ dem Täter gegenüber „zu stellen“, verlangt man schier unmögliches. Natürlich wäre es wünschenswert, ein direktes schützendes Instrument zur Verfügung zu haben, um es gar nicht erst zu einer Gefährdungssituation für das Kind kommen zu lassen.
In der Realität können Kinder, die Gewalterfahrungen erleben mussten, sich selten direkt an eine Bezugsperson wenden, um sich mitzuteilen.
Hier künftig noch zusätzliche Geheimhaltungsstrategien zu vermeiden, die in Zusammenhang mit familiären Krisensituationen entstehen, darin liegt das Ziel von aktuellen Gewaltpräventionsprojekten.

Ein Verständnis für Kindeswohlgefährdung setzt ein kontextualistisches Verständnis der Erwachsenen voraus:

Laut der UN- Studie über Gewalt gegen Kinder und Jugendliche (2006) ist Gewalt gegen Kinder aus verschiedenen Gründen nach wie vor versteckt: aus Furcht, weil Täter häufig jene Menschen (Eltern, Familienmitglieder oder maßgebende Mitglieder der Gesellschaft) sind, die Kinder eigentlich beschützen sollen und weil Kinder oft keinen sicheren und vertrauenswürdigen Weg finden, darüber zu berichten.
Auch andere Personengruppen, wie potentielle Ansprechpartnerinnen, werden von den Kindern geschützt. Befürchtungen der Kinder, dass andere Menschen die Geheimnisinhalte nur schwer ertragen bzw. gar nicht mit der Erzählung umgehen können, sind die Gründe für das Schweigen. (Ritter und Koch, 1995)
In einer Missbrauchs- oder Gewaltsituation wird Kindern auf verschiedene Arten vermittelt, ihren Gefühlen nicht zu trauen und Erlebnisse und damit verbundene Geheimnisse nicht mitzuteilen.

In diesem Zusammenhang sei die Loyalität in Familien angesprochen:

In Bezug auf die Erlebnisse eines sexuellen Missbrauchs stehen die Opfer im ständigen Loyalitätskonflikt zur Familie, vor allem wenn der Täter eine nahe stehende, geliebte Person ist.
Loyalität lässt sich auf der Ebene eines Systems (Familie, Gruppe, sonstiger sozialer Verband) als die Erwartung der Einhaltung bestimmter Regeln verstehen. Bei Missachtung drohen Sanktionen. Auf individueller Ebene hat die Person die loyal übernommenen Erwartungen und Gebote verinnerlicht. Demnach gilt Loyalität als natürliche ethische Form der Bindung an die Herkunftsfamilie. (Boszormenyi–Nagy, 1975, Simon, Clement und Stierlin, 1984)

Der Schulddruck der Kinder:

Zudem stehen Kinder unter dem Einfluss von entwertenden Strategien des Täters. Sie fühlen sich hilflos, da der Schulddruck enorm ist.
Kinder haben beim Täter Liebe, Vertrauen, Zuneigung und Zugewandtheit gesucht und ihrer Meinung nach zu wenig Widerstand geleistet. Um die Bindung zur Bezugsperson aufrechtzuerhalten, idealisieren Opfer häufig die Täter und suchen die Verantwortung und Schuld bei sich selbst. Ein Verlassen der Situation ist nicht möglich.
Auf lange Sicht gesehen, kann das Schuldempfinden die Opfer ebenso unausweichlich verfolgen, wie die damit verbundenen Schamgefühle. Nach Gahleitner (2005) schämen sich Opfer nicht nur für sich selbst, sondern für die ganze Familie und den Täter. Diese Scham tritt in der Ahnung oder dem Wissen auf, dass etwas Tabuisiertes geschieht und nach außen hin verleugnet wird.

Aus diesem Grunde kommt der Prävention eine wichtige Rolle zu.
Die bewusste Auseinandersetzung mit dem Körper, das Wahrnehmen und Benennen der Gefühle, das Wissen um Grenzen für den eigenen Körper sind in diesem Zusammenhang wichtige, grundlegende Themen. Je besser Kinder ihre Gefühle einordnen und sprachlich zum Ausdruck bringen können, desto eher kann der Schutz durch Erwachsene erfolgen.

Früher wurden Kinder geschult „NEIN“ zu sagen. Dadurch glaubten sie selbst für ihren Schutz verantwortlich zu sein. Kam es zu weiteren Übergriffen, entstand bei den Kindern ein enormes Schuldgefühl, weil sie dachten ein lauteres, deutlicheres Nein hätte diese verhindern können.
Heute schulen wir die Kinder ein NEIN – Gefühl in Zusammenhang mit unangenehmen Gefühlen und Berührungen wahr zu nehmen. Kinder können sich in diesem Fall an eine vertraute, erwachsene Person wenden, da diese den Schutz herstellen kann und soll.
Dieser Schutzraum durch Erwachsene kann allerdings nur hergestellt werden, wenn die Erwachsenen auch darüber unterrichtet sind, wie Hilfe und Unterstützung für das Kind wirklich hilfreich empfunden werden kann. Präventionsarbeit ist dann sinnvoll, wenn Projekte ganzheitlich, das heißt, unter Einbeziehung aller beteiligten Zielgruppen, vor allem der Erwachsenen, stattfinden.

Im Kinderschutz gilt:

Für die Sicherheit von Kindern haben grundsätzlich die Eltern bzw. obsorgeberechtigte Erwachsene zu sorgen.
Kinderschutzarbeit bedeutet professionelle Unterstützung dieser Eltern bzw. der obsorgeberechtigten Personen um Schutzes bei Gefährdungen ihrer Kinder herstellen zu können, im Speziellen bei sexuell motiviertem Missbrauch des Autoritätsverhältnisses, physischer oder psychischer Gewalt und Vernachlässigung.
Nach Scherl (2001) ist es keiner der Institutionen von ihrem Auftrag und ihren personellen Ressourcen her allein möglich, die Sekundärschädigungen von Kindern aufzufangen, zu verarbeiten oder zu verringern. Da bestimmte Kinderschutzmassnahmen individuelle Abläufe haben, die zeitlich nicht offensichtlich sind, ist ein umfangreiches Sachwissen bei den ProfessionistInnen notwendig, um dem Kind und der Familie die Unterstützung transparent zu machen, diese zu organisieren und die Familie dabei zu begleiten.
Hier übernimmt das Kinderschutzzentrum (als Spezialist) oder das Jugendamt (als Akteur) die Koordination der Hilfeleistungen.
Die Kenntnis der örtlichen Ressourcen über verfügbare Schutzeinrichtungen ist wichtig, da sonst das Angebot für kompetente Hilfe nur ein sprachlicher Ausdruck bleibt (eine beschämende Schnittstellenproblematik bei Kooperationen).