Psychische Auswirkungen von Kinderrechtsverletzungen

Brigitte Lueger-Schuster, Fakultät für Psychologie, Universität Wien

Kinder und Jugendliche sind die Zukunft jeder Gesellschaft. So einfach und so wahr! Nachzulesen im Editorial des Jahrbuch für Menschenrechte, 2010, das den Kindern und Jugendliche inhaltlich gewidmet wurde (Jahrbuch Menschenrechte, 2010, Böhlau). In der westlichen, industrialisierten Welt werden sie aufgrund des demographischen Wandels zunehmend zur Minderheit. Sie werden wertvoller, befinden sich aber auch im Generationenkonflikt hinsichtlich des gesellschaftlichen Leistungsvertrags. In vielen Entwicklungsländern machen Kinder und Jugendliche beinahe die Hälfte der Bevölkerung aus, vielfach sind sie damit beschäftigt täglich zu überleben. Seit mehr 20 Jahren besteht die UN-Kinderrechtskonvention, die eine Bekräftigung der Menschenrechte für Kinderrechte darstellt. Sie bezieht sich insbesondere auf jene Gruppe, die besonders häufig von Menschenrechtsverletzungen betroffen sind. 193 Staaten haben die Konvention ratifiziert, die Umsetzung blieb bislang aber problematisch und nicht ausreichend. Thematisiert werden Kinder vor allem als Opfer von Ausbeutung, Missbrauch und als Objekte von Schutzbedürftigkeit (WHO, 2002; 2003). Jugendliche, vor allem männliche stellen in der öffentlichen Wahrnehmung ein Sicherheitsproblem dar. Kinder und Jugendliche als autonome Individuen mit Würde und als Träger von Menschenrechte, dieses Thema setzt sich erst langsam durch.

Das Kindeswohl

„best interest of the child“ gilt als dehnbarer Begriff, der noch dazu kulturabhängig variabel ist. Im Zentrum steht die Frage, was Kindsein bedeutet. Im Fokus der Überlegungen stehen der Respekt vor den Entwicklungs- und Identitätsentwicklungsprozesses, die Achtung vor der Selbstbestimmung und Gleichberechtigung der kindlichen Interessen mit jenen der Erwachsenen (Bielefeld et al., 2010). Juristische Diskussionen und Auslegungen der Behörden sind zahlreich. Aus psychologischer Sicht ist Kindeswohl nicht nur im Konfliktfall ein Thema, sondern auch generell.

Kinderrechte, Elternrechte, Interventionen

Kinder haben das Recht auf Schutzmaßnahmen durch die Familie, die Gesellschaft und den Staat, sie sind Rechtsträger und sprechen mit und für sich selbst. Eltern sind die primären Erziehungsverantwortlichen, der Staat leistet Unterstützung durch die Bereitstellung, Erhaltung und Förderung der Infrastruktur. Eltern haben ein angemessenes Leitungs- und Führungsrecht, das auf die Entwicklungsfähigkeit der Kinder Bezug nimmt. Die staatlichen Interventionen zugunsten von Kindern sind deutlich definiert in der KRK. Gemäß KRK, Artikel 19 ist der Staat verpflichtet alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen zu treffen, um das Kind „vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils befindet.“ Der Schutzumfang dieser Norm ist insoweit umfassend, als auch Formen der Gewalt, die unterhalb der Schwelle der Folter und der grausamen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe liegen, mit umfasst sind. Das Verbot von Körperstrafen leitet sich ebenfalls aus diesem Artikel ab (Bielefeld et al., 2010). Es herrscht somit absolutes Gewaltverbot.

Psychotraumatologische Folgen aufgrund der Verletzung des Artikel 19 KRK

Die am häufigsten diagnostizierte Traumafolgestörung ist die Posttraumatische Belastungsstörung. Diese kann erst vier Wochen nach dem traumatischen Ereignis gegeben werden und setzt unabdingbar die Konfrontation mit einem entsprechenden Ereignis voraus. Die Symptomatik zeigt sich wie folgt:

  • Sich aufdrängende, affektiv belastende Gedanken (Intrusionen) und Erinnerungen bis hin zu einem realitätsnahen Wiedererleben des Traumas (flashbacks, Bilder, Albträume, Nachhallerinnungen) oder auch Erinnerungslücken (partielle Amnesie)
  • Übererregbarkeitssypmtome (Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, vermehrte Reizbarkeit, Affektintoleranz, Konzentrationsstörungen)
  • Vermeidungsverhalten (Vermeiden traumaassozierter Stimuli)
  • Emotionale Taubheit (allgemeiner Rückzug, Interessensverlust, innere Teilnahmslosigkeit) (Saß et al., 1998). Die Symptome entstehen unabhängig von vorherigen Störungen oder Erkrankungen und werden ausschließlich durch das Trauma ausgelöst.

Für Kinder und Jugendliche sind bislang noch keine eigenen Diagnoseschemata definiert, allerdings gibt es internationale Arbeitsgruppen (z. B. im Rahmen der International Society of Traumatic Stress Studies, ISTSS), die an Vorschlägen arbeiten.

Ausgangspunkt der Entwicklung sind praktische Erfahrungen und Studienergebnisse, die feststellten, dass Kinder nach Traumatisierung, wenn überhaupt erkannt, dann mit vielen Zusatzerkrankungen diagnostiziert werden. Zu nennen sind Verhaltensauffälligkeiten, Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung (ADHD), bipolare Störungen (das sogenannte manisch-depressive), phobische Ängste, Bindungs- und Trennungsstörungen. Da diese Zustände oft nicht in Verbindung mit der Traumatisierung gebracht werden, kommt es zu Fehlbehandlungen, deren Konsequenzen vor allem die Kinder zu tragen haben. Die Ursachen bleiben im Dunkeln, Behandlungen ufern mangels Erfolg aus und die damit verbundenen Kosten steigen.

Vor allem Kinder mit Gewalt- und Vernachlässigungserfahrungen durch Bezugspersonen leiden unter einer Problematik, die mit den vorhandenen Schemata nicht erfasst wird. Bei diesen Kindern stehen mehrere Problembereiche im Vordergrund. Van der Kolk, 2005 beschreibt sie folgendermaßen:

Die Task-force für den DSM-V schlägt daher eine Klassifikation mit dem Titel „Developmental Trauma Disorder“ vor (Cloitre et al.2009). Bedingung für die Diagnosestellung ist das Erleiden multipler oder chronischer Traumatisierung oder Vernachlässigung sowie die subjektive emotionale Reaktion (Wut, Schuld, Scham…), und der daraus resultierenden Entwicklung von Symptomen. Die Anwendbarkeit der Kriterien wird überprüft. Antizipatorische Strategien der Kinder wie Einschmeicheln oder Versuch zu vermeiden werden als Trauma-Reaktion beschrieben. Damit kann Verhalten kann adäquat erkannt werden und ist nicht mehr länger eine Verhaltensauffälligkeit.

Zahllose Kinder und Jugendliche leiden unter den Folgen der Traumatisierung. In epidemiologischen Studien werden diese Folgen primär über die bereits beschriebene Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung erfasst. Kinder, die nicht diagnostiziert sind, oder andere Trauma-Folgestörungen entwickeln, werden daher zu wenig berücksichtigt. Darüber hinaus besteht eine hohe Dunkelziffer. Zum einem wird nicht jedes Kind, das auffällt, an Dienste übermittelt, die helfen, zum anderen erkennen auch Stellen, die mit Kindern arbeiten nicht, dass hier u. U. ein Zusammenhang zu einer Traumatisierung bestehen kann. Häufig wird schlichtweg nicht danach gefragt.

Die epidemiologischen Studien lassen sich in vier Gruppen einteilen, dementsprechend unterschiedlich sind die Ergebnisse.

Gruppe 1 beschäftigt sich mit der Verbreitung von PTBS in der allgemeinen Bevölkerung. Die angeführten Studien, zeigen, dass Trauma und deren psychische Folgen weit verbreitet sind und je nach Gesellschaft ist die Gefährdung unterschiedlich (Kessler, et al., 1995; Perkonigg et al., 2000).
Gruppe 2 der epidemiologischen Studien beschäftigt sich mit Opfern in Community studies (McMillan et al., 1997).
Gruppe 3 der Studien beschäftigt sich mit Kindesmisshandlungen und der psychischen
Konsequenzen. In der Regel werden bei diesen Studien die Daten von Kinderschutzeinrichtungen
Erfasst (Manoglio, 2009).
Gruppe 4 bezieht sich auf Risikogruppen, etwa Jugendliche in Haft oder in Pflegefamilien (Stein 2006). In beiden Gruppen finden sich massive Erfahrungen mit Gewalt.

Epidemiologische Daten aus Österreich stehen nicht zur Verfügung. Die psychosoziale Versorgung von Kindern nach Menschenrechtsverletzungen leidet unter finanzieller Knappheit. Kriterien für eine optimale Rehabilitation und Prävention können in diesem Kontext nur unzureichend in die Praxis transferiert werden.

Literatur
Bielefeldt; H. et al. (Eds.), Jahrbuch Menschenrechte 2010. Kinder und Jugendliche (pp. 94-109). Wien, Österreich: Böhlau.
Cloitre, M., Stolbach, B., Herman, J. L., van der Kolk, B., Pynoos, R., Wang, J., Petkova, E. (2009). A Developmental Approach to Complex PTSD: Childhood and Adult Cumulative Trauma as Predictors of Symptom Complexity. Journal of Traumatic Stress, 22, 5, 399 – 408
Kessler, R. C., Sonnega, A., Bromet, E., Hughes, M., & Nelson, C. B. (1995). Posttraumatic Stress Disorder in the National Comorbidity Study. Archives of General Psychiatry, 52, 1048-1060.
Lueger-Schuster, B. (2010). Rehabilitation traumatisierter Kinder und Jugendlicher. In Lueger-Schuster, B. (2009). Rehabilitation traumatisierter Kinder und Jugendlicher. In H. Bielefeldt et al. (Eds.), Jahrbuch Menschenrechte 2010. Kinder und Jugendliche (pp. 94-109). Wien, Österreich: Böhlau.
Maniglio, R. (2009). The impact of child sexual abuse on health: a systematic review of reviews. Clinical Psychology Review, 29, 647-657. doi: 10.1016/j.cpr.2009.08.003

MacMillan, H. L., Fleming, J. E., Trocme, N., Boyle, M. H., Wong, M., Racine, Y. A., . . . Offord, D. R. (1997). Prevalence of child physical and sexual abuse in the community. Results from the Ontario Health Supplement. JAMA: The Journal of the American Medical Association, 278(2), 131-135. doi: 10.1001/jama.1997.03550020063039
Perkonigg, A., Kessler, R. C., Storz, S., & Wittchen, H. U. (2000). Traumatic events and post-traumatic stress disorder in the community: prevalence, risk factors and comorbidity.
Stein, M. (2006). Missing years of abuse in children's home. Child & Family Social Work, 11(1), 11-21. doi: DOI:10.1111/j.1365-2206.2006.00381.x
Saß, H., Wittchen, H-U. & Zaudig, M. (Hrsg.). (1998). Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-IV. Göttingen: Hogrefe-Verlag.
WHO (2002). Child abuse and neglect by parents and other caregivers – chapter 3. In WHO (2002), World report on violence and health (S. 58-86). Geneva: World Health Organization.
WHO (2003). Weltbericht Gewalt und Gesundheit. Zusammenfassung. Kopenhagen: WHO-Regionalbüro für Europa.