Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche – neue Entwicklungen und alte Mythen

2015 hat sich im Bereich der Prozessbegleitung einiges getan: Die Fachstelle für Prozessbegleitung ist besonders stolz darauf, dass die neue Homepage für Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche und der Intranet-Bereich für ProzessbegleiterInnen endlich starten konnten. Beim bundesweiten Vernetzungstreffen im Juni, bei dem rund 50 ProzessbegleiterInnen aus dem Kinder- und Jugendbereich zusammenkamen, konnten die neuen Folder (und wenig später auch Plakate) für Kinder und Jugendliche vorgestellt werden.

Auch im Bereich der Ausbildung für psychosoziale ProzessbegleiterInnen gab es Neues: Die letzten beiden von der Fachstelle angebotene Ausbildungslehrgänge wurden abgeschlossen. Sie waren die letzten Lehrgänge, die ausschließlich auf den Kinder- und Jugendbereich ausgerichtet waren. Im Herbst 2015 startete die erste vom MZ.O organisierte Ausbildung, bei der ProzessbegleiterInnen des Kinder- und Jugendbereichs nunmehr mit KollegInnen, die bei häuslicher bzw. situativer Gewalt begleiten, gemeinsam geschult werden. Für 2016 sind weitere Kurse geplant, bei denen VertreterInnen der Fachstelle bzw. der Kinderschutzzentren als Vortragende beteiligt sind. Weiters ist vorgesehen, eine zweitägige Qualifizierung für juristische ProzessbegleiterInnen zu etablieren.

Inhaltlich war das vergangene Jahr davon geprägt, dass die Umsetzung der EU-Richtlinie zur Stärkung der Opferrechte anstand und in einen Gesetzesentwurf mündete, zu dem die Fachstelle und viele Kinderschutzzentren kritisch Stellung nahmen. Das kommende Jahr wird zeigen, ob unsere Anregungen, wie den Bedürfnissen von minderjährigen Gewaltopfern im Rahmen der Justiz besser Rechnung getragen werden kann, in der Gesetzgebung berücksichtigt werden.

Erfreulich ist, dass die Kinderschutzzentren Liezen, Oberes Murtal und Bad Ischl/Gmunden, die mehrere Jahre lang keinen Fördervertrag mit dem BMJ hatten, nun wieder direkt vom BMJ gefördert werden, um Prozessbegleitung anzubieten.

2015 markiert aber auch einen Umbruch: Mit Sonja Wohlatz von der Beratungsstelle Tamar und Krista Mittelbach von der KiJa Steiermark gingen zwei Wegbereiterinnen der Prozessbegleitung in Ruhestand, denen wir in Hinblick auf die Entwicklung und Verbreitung der Prozessbegleitung viel zu verdanken haben. Aus diesem Grund begann die Fachstelle, mit Studierenden der Universität Wien „ZeitzeugInnen“ aus den Anfangszeiten der Prozessbegleitung zu befragen, um die Entstehungsgeschichte unseres Arbeitsbereiches besser erfassen und sichern zu können. Lässt man die mittlerweile fast 20 Jahre seit den Anfängen der Prozessbegleitung Revue passieren, so fällt auf, wie sehr sich die Verankerung der Prozessbegleitung bei Gericht und damit auch die Situation für Kinder und Jugendliche, die Gewalt oder sexuellen Missbrauch erlebt haben, geändert hat. Es wird aber auch deutlich, dass es Mythen und Vorbehalte gibt, die sich seit damals hartnäckig halten ...

Mythos 1: Es ist nicht im Sinne des Kinderschutzes, Kinder im Strafverfahren zu begleiten – um Kinder zu schützen, müsste man Anzeigen und Gerichtsverfahren vermeiden, da sie Kindern nur schaden.
Es ist ohne Zweifel, dass ein Strafverfahren mit großen Belastungen für Kinder und Jugendliche verbunden ist: Die Opfer müssen vor Polizei und Gericht über belastende, intime, schambesetzte Inhalte aussagen, oft gibt es lange Wartezeiten, bis klar ist, wie das Verfahren ausgeht – und allzu oft enden die Verfahren nicht so, wie es im Sinne des Kindeswohls wünschenswert wäre. Aber: Trotz allem ist ein Strafverfahren ein wichtiges Mittel, um gegen Gewalt vorzugehen und das erlebte Unrecht öffentlich zu machen. In manchen Fällen ist eine Anzeige zur Sicherung des Kindeswohls sinnvoll und notwendig, in manchen Fällen, um TäterInnen Einhalt zu gebieten.
Deswegen entscheiden sich viele Mädchen und Burschen, nachdem sie über die Konsequenzen einer Anzeige und die danach folgenden Abläufe aufgeklärt wurden, trotz aller Widrigkeiten dafür. Andere Kinder haben nicht die Gelegenheit, sich für oder gegen eine Anzeige zu entscheiden, da jemand anderer – Eltern, die Kinder- und Jugendhilfe, ein Spital – diese Entscheidung getroffen hat. In beiden Fällen brauchen die Heranwachsenden (ebenso wie ihre Bezugspersonen) Unterstützung und Begleitung, damit sie dem Verfahren nicht ungeschützt ausgeliefert, sondern durch Information und Beratung gut vorbereitet sind.
Wenn Kinder gut begleitet sind, können nicht nur durch das Strafverfahren verursachte Belastungen reduziert werden – in vielen Fällen erwächst auch eine Chance daraus: Eine Verurteilung des Täters kann ein Opfer bestärken, dass es gut ist, sich gegen Unrecht zu wehren, dass es ernstgenommen wurde, dass es geschafft hat, sich aus der Abhängigkeit des Täters zu befreien.
Kinderschutz bedeutet nicht, Kinder grundsätzlich vor einem Gerichtsverfahren schützen zu müssen – Kinderschutz besteht auch in der Arbeit, Exekutive und Jusitz sensibel für die Bedürfnisse gewaltbetroffener Kinder und Jugendlicher zu machen.

Mythos 2: Ein Prozess stellt immer eine neuerliche Traumatisierung für gewaltbetroffene Kinder dar.
Tatsächlich machen ProzessbegleiterInnen immer wieder die Erfahrung, dass Gerichtsverfahren retraumatisierend für Opfer von Gewalt sein können. Doch zum einen lassen sich Verfahren manchmal nicht vermeiden, und zum anderen zeigen die Erfahrungen, dass es in der Prozessbegleitung viele Wirkfaktoren gibt, die (neuerlichen) Traumatisierungen vorbeugen können: das Wissen, den Prozess nicht alleine durchstehen zu müssen (und durch die juristische Prozessbegleitung auch anwaltliche Vertretung zu haben), die Information über die bevorstehenden Schritte in kindgerechter Sprache, die aktiven Bemühungen der ProzessbegleiterInnen für Kinderschonung bei Gericht (z.B. Vermeidung von Zusammentreffen mit dem Beschuldigten), Vor- und Nachbereitung wichtiger Ereignisse, Bearbeiten von Sorgen und Befürchtungen oder auch stabilisierende Interventionen,...
Unter Umständen kann es vorkommen, dass durch die Prozessbegleitung während des Strafverfahrens so viel innere Auseinandersetzung mit der Gewalt- oder Missbrauchserfahrung erfolgt, dass auf eine traumaspezifische Psychotherapie zur Aufarbeitung des Erlebten (vorerst) verzichtet werden kann.

Mythos 3: Warum schickt man Kinder in ein Gerichtsverfahren, wenn doch nie was dabei rauskommt?
Ja, auch für ProzessbegleiterInnen sind die Entscheidungen der Gerichte oft nur schwer nachvollziehbar. Die Behauptung, dass TäterInnen nie verurteilt werden, ist allerdings nicht haltbar. In vielen Fällen kommt es zu Verfahrenseinstellungen, weil die Opfer nicht in der Lage sind, eine Aussage über das Geschehene zu machen. Ein Schuldspruch ist dann wahrscheinlicher, wenn OpferzeugInnen durch gute Begleitung ermutigt werden, gegen den Beschuldigten auszusagen.
Aber auch bei einer Verfahrenseinstellung oder einem Freispruch bereuen Opfer die Anzeige häufig nicht, wenn sie das Gefühl haben, von der Polizei und vom Gericht ernstgenommen worden zu sein oder wenn sie stolz auf ihre eigene Stärke sein können. Manche Opfer sagen nach einem Prozess: „Ich wollte eigentlich eh nicht, dass er eine Strafe bekommt. Aber dass es jetzt alle wissen und dass er von der Polizei und dem Gericht befragt wurde, das war mir wichtig!“

Mythos 4: Prozessbegleitung drängt Kinder dazu, bei sexuellem Missbrauch oder Gewalt Anzeige zu erstatten.
Es ist nicht Aufgabe von Prozessbegleitung, eine Anzeige zu forcieren oder von einer Anzeige abzuraten. ProzessbegleiterInnen helfen Kindern und Jugendlichen zu verstehen, welche Folgen eine Anzeige hat, wie ein Gerichtsverfahren abläuft und welche möglichen Verfahrensausgänge zu erwarten sind. Sie bearbeiten die Ängste, Erwartungen und Hoffnungen, die mit dieser Entscheidung verbunden sind. Sie klären OpferzeugInnen kind- und entwicklungsgerecht über ihre Rechte auf, aber auch darüber, welche belastenden Erfahrungen ihnen bevorstehen. Sie geben dem Opfer Raum, Für und Wider einer Anzeige gegeneinander abzuwägen und ambivalente Gefühle zu ordnen. Kurz gesagt: ProzessbegleiterInnen ermächtigen Kinder und Jugendliche, selbst die Entscheidung treffen zu können, was für sie das Beste ist. Ein entsprechender Beratungsprozess erfolgt auch mit den obsorgeberechtigten Personen, die ja in der Regel bei Kindern über eine Anzeige entscheiden. Auch sie sollen befähigt werden, Entscheidungen zu treffen, die im Sinne des Kindeswohles sind.

Diese Vorbehalte sind Ausdruck der Befürchtung, dass Kinder, die ohnehin schon Gewalt und Missbrauch erleben mussten, in einem Strafverfahren nicht ausreichend geschützt werden. Es gibt aber auch Mythen, die anderen Bedenken entspringen:

Mythos 5: Prozessbegleitung beeinflusst die Aussagen der Kinder.
Immer wieder zeigen sich Verteidiger oder VertreterInnen der Justizbehörden überrascht darüber, wie selbstbewusst und gründlich manche Mädchen oder Buben bei ihrer Vernehmung aussagen. Rasch entsteht der Verdacht, die Aussage wäre mit der Prozessbegleitung einstudiert worden bzw. wäre dem Opfer nahegelegt worden, welche Antworten es auf bestimmte Fragen geben soll.
Es ist nicht Aufgabe von Prozessbegleitung, auf eine „gute“ Aussage des Opfers hinzuarbeiten (es ist auch nicht Aufgabe von Prozessbegleitung, das Opfer zu einer Aussage zu bewegen, falls es nicht aussagen will). Das Opfer wird in der Vorbereitung lediglich darauf vorbereitet, in welchem Rahmen die Befragung erfolgt, welche Informationen für das Gericht wichtig sind und mit welchen Fragen zu rechnen ist.
Aus verschiedenen Gründen zielen ProzessbegleiterInnen nicht darauf ab, dass in den Beratungsgesprächen explizit über die Gewalthandlungen gesprochen wird. Auch dies reduziert die Gefahr einer inhaltlichen Beeinflussung.
Prozessbegleitung ist weniger ein Risiko als eher Garantie dafür, dass Kinder nicht auf suggestive, manipulierende Weise auf ihre Aussage vorbereitet werden.
ProzessbegleiterInnen beeinflussen den Inhalt der Aussage also nicht. Was aber häufig bei Einvernahmen spürbar wird ist, dass ZeugInnen, die wissen, was sie erwartet und dass sie Unterstützung haben, leichter eine sichere und klare Aussage machen können.

Mythos 6: Prozessbegleitung ist ein Eingriff und beeinflusst den Verlauf des Verfahrens.
Mitunter ist folgender Einwand gegen Prozessbegleitung zu hören: „Also, wenn Prozessbegleitung verängstigte Kinder so stärkt und ermutigt, dass sie eine Aussage machen und Kinder, die wegen ihrer Loyalitätskonflikte keine Aussage gemacht hätten, von diesen so weit entlasten, dass sie doch gegen ihren Vater aussagen, dann ist das doch eine massive Beeinflussung des Prozesses! Dass Kinder, die Angst vor den Konsequenzen haben, nicht gegen ihren Vater aussagen wollen, ist einfach eine Realität, die wir bei Gericht zu akzeptieren haben.“ (Eine ähnliche Argumentation besteht darin, dass Opferrechte nicht so stark ausgeweitet werden dürften, dass sie zu einer Einschränkung der Beschuldigtenrechte führen bzw. dass „Waffengleichheit“ zwischen beiden Seiten bestehen müsste.)
Der Vorwurf, dass Prozessbegleitung die Opfer so sehr stabilisiert und stärkt, dass sie im Verfahren anders auftreten, lässt sich tatsächlich kaum entkräften. Im Gegenteil: Er ist eine Bestätigung dafür, dass Prozessbegleitung ihren Zweck erfüllt. Würde Prozessbegleitung die Opfer nicht stärken, wäre sie wirkungslos und jenen Stimmen, die Strafverfahren als unzumutbar und retraumatisierend für gewaltbetroffene Kinder betrachten, müsste doch wieder beigepflichtet werden.

Kehren wir abschließend zum ersten Mythos zurück, dass „richtiger“ Kinderschutz bei Gewalt und sexuellem Missbrauch jedenfalls darin bestehen müsste, Kinder davor zu bewahren, einem Strafverfahren ausgesetzt zu werden. Professioneller Kinderschutz und professionelle Prozessbegleitung zeichnen sich dadurch aus, keine pauschalen Haltungen zu vertreten (Jeder Fall muss angezeigt werden!/Eine Anzeige ist immer zu vermeiden!), sondern in jedem Fall individuell zu entscheiden, ob eine Anzeige ein sinnvolles und notwendiges Mittel zur Sicherung des Kindeswohles darstellt oder nicht.