Mobbing – eine gruppendynamische Ohnmachtsfalle und Angriff auf eine Vielzahl von Kinderrechten

Laut OECD Studie (2015) ist in Österreich jede/r 5. SchülerIn von Mobbing betroffen.
In unserer Arbeit mit ca. 70 Schulklassen pro Jahr, also etwa 2000 SchülerInnen, wird dies tatsächlich sichtbar. Allzu oft befinden sich in einer Klasse der 5. oder 6. Schulstufe zwei, drei, fünf oder sogar mehr – teils ehemals, teils akut – von Mobbing betroffene Kinder. Jede und jeder einzelne mit einer riesigen Angst, dass dies jemand mitbekommen und das Ganze wieder von vorne beginnen könnte. Oder auch, dass es in der neuen Klasse einfach weitergeht bzw. sich jemand einmischt und das Ganze noch schlimmer wird. Viele dieser Kinder zeigen spürbare Auswirkungen der Mobbing-Erfahrung: ängstlich gegenüber jedem Kontakt, entweder in sich gekehrt oder aggressiv und somit in beiden Fällen echte Kontakte vermeidend. Durch dieses Reaktionsverhalten droht wiederum die Gefahr, als Sonderling oder als unangenehm abgetan zu werden. Ein Teufelskreis.

Anders als bei einem Konflikt, handelt es sich bei Mobbing um ein Gruppenphänomen. Oftmals gibt es zwischen Betroffenen und Akteuren keine Reibereien, wenn sie sich alleine, also ohne Publikum, begegnen (Kulis 2001). Vielmehr geht es Mobbing-AkteurInnen darum, ihren Status in der Klasse/Gruppe zu erhöhen oder beizubehalten (Schäfer & Korn, 2004). Es kann ein Konflikt vorausgehen – muss aber nicht! Betroffene werden in solchen gruppendynamischen Gegebenheiten über einen längeren Zeitraum hinweg beschämt, ausgelacht, gehänselt, bedroht, geschlagen und ausgeschlossen – wenn Cybermobbing hinzukommt mitunter 24 Stunden am Tag.
Wissenschaftliche Daten zeigen, dass üblicherweise keine besonderen (Charakter-) Eigenschaften zugrunde liegen, um Betroffene/r zu werden. Es kann jede und jeden treffen (Kulis 2001).
Oftmals zieht die Gruppendynamik nach und nach immer größere Kreise. Beteiligt ist die gesamte Klasse. Die SchülerInnen befinden sich in verschiedenen Rollen: von AkteurIn über MitläuferInnen, VerstärkerInnen, ZuschauerInnen bis hin zu DulderInnen. Auch so manche Lehrerin, so mancher Lehrer, die Direkrorin/der Direktor und auch Eltern werden allzuleicht Teil der Dynamik und stabilisieren oder verstärken das Geschehen. In einem uns bekannten Fall ging die Verstrickung bis hin zur Schulinspektion. Schuld wird hin und her geschoben, Ursachen gewälzt.

Oftmals spüren die Beteiligten nicht mehr, was sie anrichten, welchen furchtbaren Schmerz sie jemandem bereiten, wie sehr sie einen Menschen in die Enge treiben. Längst hat sich die Dynamik verselbständigt und steigert sich immer weiter. In den einzelnen Rollen erst einmal angekommen, lässt es sich aus diesen nicht mehr so leicht aussteigen. Engagierte LehrerInnen oder Eltern versuchen verzweifelt die Lage zu lösen – leider oftmals ohne Erfolg.
Wir kennen Familien, die auf Grund von Mobbing ihres Kindes in der Schule aus der Gemeinde weggezogen sind, ja sogar das Bundesland gewechselt haben. Eltern, die sich sicher sind, dass sich an der Klassensituation etwas ändern muss, aber anonym bleiben wollen, wenn sie unseren Rat einholen, aus Angst, ihr eigenes Kind könnte Schaden davontragen, weil es etwas erzählt hat.

Die Forschungsergebnisse der Wissenschafterin Naomi Eisenberger sind eindeutig. Sich ausgeschlossen, nicht gemocht zu fühlen oder ausgelacht zu werden wird vom menschlichen Gehirn gleich bewertet wie körperlicher Schmerz. Zahlreiche Untersuchungen bestätigen:
Mobbing-Erlebnisse wirken sich negativ auf die Gesundheit wie auch auf das Berufsleben aus – übrigens nicht nur bei Mobbing-Betroffenen, auch bei Mobbing-AkteurInnen. (Scheithauer, Hayer & Peterman, 2003; Hayer & Bull, 2007, W. Copeland et al, 2013, Dr. Wladika, Klinikum Klagenfurt)

Mobbing verletzt in hohem Maße die Sicherheit und die Würde eines Menschen und auch eine Vielzahl der Kinderrechte:

Das Recht auf Schutz vor Ausgrenzung und Benachteiligung auf Grund von Religion, Herkunft, Behinderung oder Geschlecht.
Als Anlass für Mobbing eignen sich Unterschiede aller Art. Die bloße Existenz dieser realen oder behaupteten Abweichungen dient häufig als Rechtfertigung für Mobbinghandlungen. Schutz für die Betroffenen ist oftmals nicht gewährleistet, da Lösungsansätze fehlen.

Das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung und Schutz der Privatsphäre
Eltern wissen sich in Mobbingsituationen oftmals nicht zu helfen und verschlimmern unabsichtlich die Lage oder geben die Schuld an der Situation ihrem eigenen Kind.

Das Recht auf Bildung
Mobbing erschwert den Schulbesuch massiv. In den meisten Fällen kommt es zu Leistungsabfall bis hin zu Schulverweigerung.

Das Recht auf Freizeit, Spiel und Erholung
Aufgrund der technischen Entwicklung findet Mobbing häufig 24 Stunden täglich statt und verunmöglicht Phasen der Entspannung und Erholung. Freunde gibt es oftmals nicht mehr, Ausschluss, Drohungen und Beschämung dauern in der Freizeit an.

Das Recht auf gesunde Ernährung, Gesundheitsversorgung und einen angemessenen Lebensstandard

Anhaltendes Mobbing macht krank. Es kann zu psychosomatischen Beschwerden führen, starken psychischen Problemen und im schlimmsten Fall zu Suizid.
Schule und Freizeit angstfrei zu entspricht einem angemessenen Lebensstandard und sollte selbstverständlich sein.

All dies zeigt uns, wie dringend notwendig es ist, dass Kindergärten, Schulen und alle weiteren Einrichtungen die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten (und auch Unternehmen) Verantwortung übernehmen, präventive Maßnahmen setzen und im akuten Fall von Mobbing intervenieren.

Auf Grund dieser Ausgangslage haben wir im Herbst 2015 die Initiative „Schulen lösen Mobbing“ gegründet. Überzeugt, dass Mobbing gelöst und die Ohnmachts-Spirale gestoppt werden muss, trainieren wir seither LehrerInnen und psycho-soziale Fachkräfte mit dem „No Blame Approach - Ansatz ohne Schuldzuweisung“.

Hierbei handelt es sich um eine sehr gut evaluierte Mobbing-Intervention, mit der akutes Mobbing – auch verhärtete Fälle – in über 85% innerhalb kürzester Zeit kompetent und pädagogisch wertvoll gelöst werden kann. Der Ansatz wurde von George Robinson, einem Schuldirektor, und Barbara Maines, einer Psychologin, in England entwickelt. Heike Blum und Detlef Beck (D) haben den Ansatz weiterentwickelt, evaluiert und hervorragende Materialien dazu veröffentlicht. Wir lehren und verbreiten den „No Blame Approach“ in Österreich, erweitern diesen mit all unserem Wissen aus jahrelander Arbeit mit Kindern, Jugendlichen, Eltern, PädagogInnen und PsychologInnen und bringen das gesamte Kollegium einer Schule bzw. pädagogischen Institution auf einen gemeinsamen Wissensstand und Handlungskompetenz zum Thema Mobbing – bis hin zur Zertifizierung „Sicher gemeinsam“.

Die Methode „No Blame Approach“ bezieht die verschiedensten Gruppenmitglieder in die Lösung mit ein und setzt auf die Ressourcen der Kinder und Jugendlichen. Gut trainiert können LehrerInnen, PsychologInnen und SozialarbeiterInnen Mobbing frühzeitig erkennen, bleiben auf der Metaebene, somit handlungsfähig und übernehmen Verantwortung die Problematik zu lösen. Kollegien und Eltern werden in Kurz-Fortbildungen geschult, Kinder und Jugendliche im Falle von Mobbing lösungsorientiert zu begleiten und mit KollegInnen und Eltern zusammenzuarbeiten. Schulen und Institutionen stellen sich dem Problem und übernehmen Verantwortung. Denn Mobbing ist eine Gruppendynamik und lässt sich nur dort lösen wo sie stattfindet.

Ein schöner Nebeneffekt ist, dass wir weit über die Lösung von Mobbing hinaus einen echten Perspektivenwechsel in Richtung Verantwortung, Empathie und Beziehungskultur vornehmen, weit weg davon, Kinder und Jugendliche als Täter und Opfer abzustempeln und Ihnen somit ihren Lebensweg zu erschweren.
Die Zahlen und Rückmeldungen sprechen für sich. Innerhalb von 3 Jahren konnten wir über 800 Fachkräfte in intensiven Fortbildungen trainieren und über 65 Schulen zertifizieren. Die Erfahrungen sind überdurchschnittlich gut. Aussagen von TeilnehmerInnen unserer Fortbildungen sind nach Anwendung des „No Blame Approaches“ häufig wie diese: „Es war unglaublich, die SchülerInnen waren plötzlich hochmotiviert zu helfen! Auch genau diejenigen, die vorher der Betroffenen das Leben so schwer gemacht haben. Das Besondere war zusätzlich, dass die gemeinsame Arbeit mit den Kindern und ihre Hilfsbereitschaft auch mich wieder positiv gestimmt hat.“

All diese Erfahrungen führen uns täglich vor Augen: Kinder brauchen eine Anleitung, brauchen uns als Vorbilder, als klare, wertschätzende Erwachsene, an die sie sich anhalten, an denen sie sich orientieren können. Wie schon Karl Valentin sagte: „Wir brauchen Kinder nicht zu erziehen, sie machen uns sowieso alles nach.“

Es ist höchste Zeit für eine erwachsene Gesellschaft, in der Mitgefühl, wertschätzende Kompetenz und Lösungen das Geschehen bestimmen.
Machen Sie mit.

Stoppen wir gemeinsam Beschämung und Schuldzuweisung.