Kinderrechte und Wirklichkeit

Geschätzte Damen und Herren!

Eine Vorbemerkung
Es geschieht viel Gutes und Positives in unserem Land – ich will aber hier nicht Streicheleinheiten vergeben, sondern manche Fehlhaltungen in Bezug auf Kinderrechte aufzeigen; mein Beitrag soll auch im Kurzrückblick nicht relativieren, sondern notwendige Entwicklungen unterstreichen.

Es ist hilfreich, bei manchen Problemstellungen den gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahre und Jahrzehnte in Betracht zu ziehen; da die Redezeit mit 20 Minuten begrenzt ist, bitte ich um Nachsicht für Pauschalität und Kürze:

wir sind pluralistischer geworden in mehrfacher Hinsicht (politisch, kulturell, religiös und vor allem in der menschlichen Lebensführung und in der praktischen Lebenshandhabung) – das äußert sich auch in Entwicklungen –
2 Beispiele will ich nennen:

1. wenn wir im Blick auf Kinder und Jugendliche mit geistiger und mehrfacher Behinderung einige Jahrzehnte zurück schauen:
vor 70 Jahren wurden sie umgebracht, dann jahrelang versteckt, vor 40 Jahren wurden in NÖ die ersten Tagesheime geschaffen; am Beginn der 1980er Jahre dachte man in NÖ bei der Wohnunterbringung von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung noch an 4 Wohnhäuser in je einem Viertel unseres Bundeslandes; ab dieser Zeit standen Gemeindenähe, Normalitätsprinzip und Integration im Vordergrund;doch es gab auch Rückschläge: vor 15 Jahren musste die Caritas ein bereits erworbenes Grundstück wieder verkaufen, weil – so die Nachbarn – „wir keine Narren als Nachbarn wollen“, vor 10 Jahren musste ich bei einer sehr emotionalen Bauverhandlung von Anrainern als die schwerwiegendsten Einsprüche folgende zur Kenntnis nehmen: Wertminderung des Grundstückes durch SOLCH eine Nachbarschaft und Schatten im Garten; heute spricht man nicht mehr von Integration sondern von INKLUSION und meint damit die möglichst vollkommene Teilhabe dieser Personen am üblichen gesellschaftlichen Leben – mit der notwendigen Begleitung und Assistenz
– erst gestern gab es zu diesem Thema eine Tagung der Lebenshilfe in St.Pölten

im 2. Beispiel will ich einen Blick auf Kinder machen und ihn zeitlich auf mein persönliches Erleben eingrenzen (das sind 60 Jahre):
oft kam ich mir als Eigentum vor, wenn mich die Leute fragten: „Wem gehörst denn du?“ (erst später lernte ich, dass es sich dabei um einen speziellen dativus austriacus possessivus handelt); in meiner Kinder- und Jugendzeit gab es noch legal geduldete gewalttätige Erziehungsmaßnahmen in Schulen, Internaten, Heimen und Elternhaus; es gab die Sicht von Kindern als Tonmaterial, Pflanzen und anderen bevormundenden Betrachtungs- und Handlungsweisen (in der Pädagogik gab es den Vergleich des Erziehers mit dem Töpfer, mit dem Gärtner, mit dem Bildhauer); und es gab weitere fürsorgende Bilder, die alle eines gemeinsam hatten: das Kind hatte kaum Eigenrechte.
Heute sehen wir im Kind ein eigenständiges, eigenberechtigtes, individuelles Subjekt; in Salzburg gibt es seit 60 Jahren die Internationale pädagogische Werktagung (sie findet im Juli statt und dauert jeweils eine Woche); für das Jahr 2011 hat sie als Thema: „in Würde werden“; in Würde werden können geht von einem unantastbaren, weil mit höchster Würde ausgestattet, individuellen Menschenbild aus; fehlt der würdevolle Ansatz, dann ist der Boden bereitet für alle Scheußlichkeiten wie Missbrauch und Vergewaltigung von Körper und Seele;

Was heißt heute: sich gesellschaftlich kindgerecht (Kind – Recht) zu positionieren und zu verhalten? Dazu ein paar zugegebenermaßen zugespitzte Überlegungen:

Soll die bildungsmäßige Vorbereitung auf unsere hoch technisierte Lebenswelt schon im Kindergarten beginnen? Oder soll vor der Schule ein Raum sein, in welchem die Kinder ihren Neigungen und Phantasien folgen können?
Soll grundsätzlich die Bildung dazu führen, IT- oder Gentechnik noch rascher voran zu treiben? Oder soll Bildung in erster Linie darauf abzielen, ausgewogene und zukunfts- dienende Entfaltung von Kopf, Herz und Hand zu ermöglichen?
Ist die Leistung schon in frühesten Kinderjahren das Um und Auf? Oder ist es gerade der Leistungsdruck durch Eltern, Erzieher/innen, menschlicher Umgebung und Umwelt, der bei den Kleinen das Kindheitsglück verkümmern lässt?

In der Präambel der Kinderrechte heißt es unter anderem beinahe lapidar:
„Kinder sollen zur vollen und harmonischen Entfaltung ihrer Persönlichkeit in einer Familie und umgeben von Glück, Liebe und Verständnis aufwachsen“.
Dabei geht es natürlich um eine „ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung“.
Kindergerecht handeln bedeutet daher: die Perspektive geht von den Kindern aus, von deren Bedarf und Bedürfnissen.

Erlauben Sie mir einen side step: ganzheitlich heißt auch Recht auf Religion!
In den Kinderrechten ist das verankert im Art. 14; dort können wir lesen: „Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekunden, darf nur den gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden“.
Eine gesunde Religion führt ja zu Wertvorstellungen, zu Beziehungskultur und Sozialkompetenz; religiöse Erzählungen, Symbole und Rituale fördern eine positive Lebenseinstellung; – zumindest aus der christlicher Sicht, wenn der Gott-mit-uns verkündet wird, und nicht Dämonen, Feuer und Hölle.

Ein paar Bemerkungen und Informationen zur Situation von Kindern und Kinderrechten bei uns:
Die Rechte von Kindern werden dann massiv beeinträchtigt, wenn Freiheit, Gesundheit und Bildung am Spiel stehen.
Die Rechte von Kindern werden dort massiv beeinträchtigt, wenn durch Armut die Wohnsituation, Schulveranstaltungen, Freizeit und allgemein die Teilhabe am normalen gesellschaftlichen Umfeld eingeschränkt ist.

Die Statistik führt in Europa 19 Millionen Minderjährige als arm;
In Österreich werden (auf Basis von EU SILC Angaben) 270.000 Mädchen und Burschen als armutsgefährdet eingestuft, das sind 27% aller Betroffenen (mehr als ¼ );
der Hinweis auf die von Armut besonders bedrohte Spezies der Mehrkindfamilien ist damit evident (warum gerade auch die zum Sparbudget der Regierung beitragen müssen ist mir rätselhaft – eigentlich nicht begründbar).
96.000 Kinder in Österreich müssen in manifester Armut leben.
In NÖ waren 2009 laut Angaben der vier Institutionen, die mit Wohnungssicherung arbeiten, 1000 Kinder von Delogierung betroffen.
In unsere Sozialberatung und Nothilfe – d.h. bei der Caritas der Diözese St.Pölten und das betrifft gemäß Diözesangrenzen nur HALB NÖ – zu uns kommen die Leute normalerweise erst dann, wenn sie überhaupt nicht mehr weiter wissen – bei den Vorsprachen im ganzen Jahr 2009 waren 1642 Kinder involviert und heuer bis Ende Oktober bereits 1757 – wir müssen bis Ende des Jahres mit einer 25%igen Steigerung zum Vorjahr rechnen.
Das Kinderrecht „ohne Armut aufwachsen zu können“ schreit förmlich nach einer echten Mindestsicherung für diese Personengruppe anstatt steuerlicher Almosen-Zuwendung.

Unter Armut verstehen wir üblicherweise die in offiziellen Statistiken erfasste; es gibt darüber hinaus noch andere Formen menschlicher Armut:

z.B. jenes 13-jährige Mädchen, deren alleinerziehende Mutter psychisch krank ist und zudem alkoholabhängig; jeden Tag hat es Angst, wenn es von der Schule nach Hause kommt, weil es nicht weiß, wie es seine Mutter vorfindet; ob ein Essen vorbereitet ist, oder ob die Mutter betrunken im Bett liegt; es hat auch noch nie eine Mitschülerin zu sich einladen können – und das spielt sich seit Jahren so ab;
auf die besonders tragischen Verletzungen der letzten Monate in Österreich brauche ich im Detail nicht einzugehen, denn es ist selbstredend, wenn bei der Abschiebung von 8-jährigen Zwillingen sie lt. Zeitung. nicht einmal den Teddybär mitnehmen durften – auch wenn ihnen gestern eine dauerhafte iederlassungsbewilligung erteilt worden ist wenn bei der versuchten Abschiebung einer 14-jährigen sehr guten Schülerin die Polizei sie aus dem Klassenzimmer holen wollte wenn die rücksichtslose Abschiebung eines verwitweten Vaters mit seinen Kindern in die Mongolei vorgenommen werden soll (ORF 6.11.2010).

Bestehendes Recht ausführen muss noch lange nicht menschenwürdig heißen und schon gar nicht „kindgerecht“. Wenn der Vollzug von Gesetzen solche Formen annimmt, dann gehören sie repariert! – zudem wäre es in diesen Fällen beinahe nötig, zumindest das Fremden- und Asylgesetz einer „Kinderverträglichkeitsprüfung“ zu unterwerfen.
Der Aufschrei von 112.660 (heute 10.30 Uhr) Unterzeichnern gegen dieses Unrecht spricht für sich. Er zeigt, dass es viele Menschen in unserem Land gibt, die deutlich zum Ausdruck bringen, dass sich so ein humanitäres Desaster, wie es sich in der letzten Zeit mehrfach abgespielt hat, nicht mehr ereignen darf – dabei kennen die meisten von uns nur jene Grauslichkeiten, die uns die Medien serviert haben. Viel Leid von Kindern bleibt uns verborgen.

Eines muss klar sein:
--> Kinder dürfen nicht aus den Familien gerissen werden
--> Kinder dürfen nicht wegen Abschiebung aus dem Bett oder aus dem Unterricht geholt werden;
--> Kinder gehören nicht ins Gefängnis
--> die Psyche von Kindern darf nicht verletzt werden
--> die Vermischung von Asyl, Sicherheit und Kriminalität ist grundsätzlich fatal, besonders aber, wenn Kinder einbezogen sind

ein abschließendes SUMMARIUM

Jedes einzelne Kind, dem seine Rechte vorenthalten werden, stellt ein „Nicht Genügend“ unserer Gesellschaft dar!
Das Maß für Wirtschaft und Politik muss die individuelle, unantastbare Würde der Menschen, insbesondere der Kinder sein!
Kinderrechte und Menschenwürde müssen ein Impetus gegen Armut, gegen Ausgrenzung und gegen fehlende Teilhabe an der Zukunft unseres Landes sein!
Die hohen Entwicklungspotentiale von Selbstwirksamkeit und Zutrauen der Kinder müssen gefördert und begleitet werden!
Ein Schulterschluss der verschiedenen Bildungs- und Erziehungsinstitutionen unter Einbeziehung der Eltern ist erforderlich – er wird doch nicht auf Grund unterschiedlicher österreichischer Parteivorgaben verunmöglicht werden?

„Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf“ lautet eine bekannte afrikanische Weisheit.
Um die Kinderrechte in unsere Gesellschaft zu implementieren, – auch in die Köpfe und Herzen – braucht es die gemeinsame Anstrengung von uns allen würde ich die österreichische Ableitung formulieren.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

Friedrich Schuhböck (Caritas – Direktor in St.Pölten)