Junge Menschen auf der Flucht

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) sind eine besondere Herausforderung für das Schulsystem. Sie befinden sich im Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsen. Und scheitern oft an den Möglichkeiten, Bildung zu erwerben.

Aktuelles

Als ich Mitte 2014 begonnen habe mich im Rahmen meiner Bachelorarbeit mit der schulischen Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Tirol auseinander zu setzen, war die Welt in Mitteleuropa noch in Ordnung. Die Flüchtlingskrise spielte sich im Mittelmeerraum ab. Menschen starben beim Versuch, von Afrika nach Europa zu kommen. Syrer und Afghanen lebten in großen Flüchtlingslagern in Jordanien, dem Libanon oder der Türkei. Griechenland war stark betroffen, aber die Flüchtlinge waren noch nicht in Mitteleuropa angekommen. Heute ist das anders. Flüchtlinge sterben in Kühltransportern auf österreichischen Autobahnen. Syrische und afghanische Familien stehen an unseren Grenzübergängen, in unseren Bahnhöfen – und das zu Tausenden. Die Flüchtlingskrise ist für uns greifbar geworden, denn die Schicksale dahinter sind plötzlich nur mehr wenige Kilometer entfernt. Selbst österreichische Landtagswahlen werden von diesem Thema überschattet. Viele Menschen in Mitteleuropa haben das Gefühl, als hätte sich von einem Tag auf den anderen eine Schleuse aufgetan und der Flüchtlingsstrom hätte uns überrollt. Die Gemeinschaft der Bürger hat oft schneller reagiert als die Politik. Sie hat geholfen. Die Politik laviert zwischen dem menschlichen Bedürfnis, helfen zu wollen und der Angst, Wählerstimmen zu verlieren, wenn man gar zu freundlich gegenüber dem Fremden ist. In diesem Spannungsfeld bewegen sich unter den Tausenden von Flüchtlingen auch Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren, die ohne Begleitung auf der Flucht sind. Kaum den Kinderschuhen entwachsen, sind auch sie auf der Flucht. Ihre Zahl wird in den kommenden Jahren dramatisch steigen. Deshalb ist der Blick darauf, wie diese jungen Menschen zu integrieren sind, besonders wichtig. Sie befinden sich im Übergang vom Kind zum Erwachsenen, fallen oft nicht mehr in die gesetzliche Schulpflicht und wollen dennoch in das System Schule kommen. Sie sind nicht nur ohne Heimat, ohne Ansprechpartner sondern auch nicht mehr Kind und dennoch weit weg vom Erwachsensein. Das ergibt ein Spannungsfeld, dem sich ein Staat wie Österreich stellen muss.

Überblick

Um die Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge zu verstehen, wurde analysiert, welche besonderen Umstände das Lernen dieser Jugendlichen positiv und negativ beeinflussen. Als Kernaussage hat sich ergeben, dass es wesentliche Unterschiede in Bezug auf die Entwicklungschancen gibt, wenn ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling per Gesetz zu alt ist, um in die Schulpflicht zu fallen. Negativ auf die schulische Leistung wirken sich auch Traumatisierungen aus sowie der häufig vorhandene Druck, im Asylland wirtschaftlich erfolgreich zu sein.
Um die Situation in Tirol zu erheben, wurden in der zweiten Jahreshälfte 2014 Interviews mit Pädagoginnen/Pädagogen, Flüchtlingsbetreuerinnen/-betreuern und Deutschtrainierinnen/-trainern durchgeführt. Diese wurden verglichen mit eigenen Beobachtungen aus mehreren Schulpraktika an einer Sonderschule, die einen hohen Prozentsatz an UMF aufweist. Um das Bild abzurunden, ergab sich für den Verfasser die Möglichkeit, bei einigen Deutschtrainings in einer Betreuungseinrichtung zu hospitieren.

Das Recht auf Schule

Das Recht auf Bildung für Kinder ist in mehreren völkerrechtlichen Verträgen verankert, die Österreich ratifiziert hat.  In Bezug auf Flüchtlingskinder hat die UN-Konvention über die Rechte des Kindes, die u. a. im Artikel 28 das Recht auf Bildung definiert und im Artikel 22 explizit die Situation von Flüchtlingskindern anspricht, größte Bedeutung. Alle festgeschriebenen Kinderrechte in dieser UN-Konvention gelten uneingeschränkt auch für Flüchtlingskinder (UNO, 2014, o. S.).
„Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen, daß ein Kind, das die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt oder nach Maßgabe der anzuwendenden Regeln und Verfahren des Völkerrechts oder des innerstaatlichen Rechts als Flüchtling angesehen wird; angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält, die in diesem Übereinkommen oder in anderen internationalen Übereinkünften über Menschenrechte oder über humanitäre Fragen, denen die genannten Staaten als Vertragsparteien angehören, festgelegt sind, und zwar unabhängig davon, ob es sich in Begleitung seiner Eltern oder einer anderen Person befindet oder nicht“ (Art. 22 Abs. 1, UN-Konvention über die Rechte des Kindes).
Wichtige Aussagen in Richtung Recht auf Schule und Schulpflicht sind hier, dass es für jedes Kind Pflicht – und damit Recht zugleich – ist, die Pflichtschule unentgeltlich zu besuchen. Das Recht auf Schule ist im Artikel 28 verankert.
Weiters besagt Art. 28, dass die Unterzeichnerstaaten „die Entwicklung verschiedener Formen der weiterführenden Schulen allgemeinbildender und berufsbildender Art fördern, sie allen Kindern verfügbar und zugänglich machen und geeignete Maßnahmen wie die Einführung der Unentgeltlichkeit und die Bereitstellung finanzieller Unterstützung bei Bedürftigkeit treffen“ (Art. 28 Abs. 1, UN-Konvention über die Rechte des Kindes).
Auch auf europäischer Ebene ist das Recht auf Schule als eines der Grundrechte des Menschen verankert. Nach Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) darf niemandem das Recht auf Bildung verwehrt werden. Der Genuss der in der Konvention anerkannten Rechte ist ohne Diskriminierung wegen der nationalen Herkunft zu gewährleisten (Art. 14 EMRK).
Nach Art. 14 der Neufassung der EU-Aufnahmerichtlinie müssen die Mitgliedstaaten minderjährigen Asylsuchenden in ähnlicher Weise wie den eigenen Staatsangehörigen den Zugang zum Bildungssystem gestatten. Die Mitgliedstaaten dürfen eine weiterführende Bildung nicht mit der alleinigen Begründung verweigern, dass die Volljährigkeit erreicht wurde. Der Zugang zum Bildungssystem muss spätestens drei Monate nach Asylantragstellung gewährt werden. Bei Bedarf müssen Minderjährigen Vorbereitungskurse, einschließlich Sprachkursen, angeboten werden, um ihnen den Zugang zum und die Teilnahme am Bildungssystem zu erleichtern.
Was bedeutet das für die aktuelle Situation? Kurz zusammengefasst bietet sich folgendes Bild: Kinder im Pflichtschulalter werden in Österreich korrekt in das Pflichtschulsystem integriert. Schwieriger ist die Situation für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Über ihnen schwebt oft das Damoklesschwert, ob sie jung genug sind, noch in das Pflichtschulsystem zu kommen – oder ob sie sich den Zugang zum Bildungssystem und damit zu einer weiterführenden Ausbildung über andere, holprige Wege organisieren müssen.

Zahlenspiele

Wie viele Kinder und Jugendliche in Österreich und in den Bundesländern auch pädagogisch betreut werden, ändert sich derzeit von Tag zu Tag. Im Rahmen eines Symposiums an der Pädagogischen Hochschule Tirol Mitte Oktober gab Landesrätin Christine Bauer einen aktuellen Überblick für Tirol. Hier befanden sich Mitte Oktober 121 Kleinkinder, 121 Vorschulkinder, 351 schulpflichtige Kinder und 122 Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren unter den Asylwerbern. Dazu kommen im Verteilerzentrum West in Innsbruck noch einmal im Schnitt 40 Kinder und Jugendliche, bei denen nicht klar ist, ob sie in Tirol bleiben.

UMF und das Schulsystem

Die Interviews mit BetreuerInnen und PädagogInnen haben interessante Ansatzpunkte ergeben, welche Schwierigkeiten und Möglichkeiten sich für UMF im Tiroler Schulsystem ergeben.
Die Wünsche und Hoffnungen, die unbegleitete minderjährige Flüchtlinge an ihr neues Leben in Tirol haben, können BetreuerInnen, DeutschtrainerInnen und Pädagoginnen/Pädagogen in einem Satz zusammenfassen: Sie wollen am ihrem neuen sozio-kulturellen Umfeld teilhaben. Diese Teilhabe lässt sich anhand dreier konkreter Wünsche und Hoffnungen manifestieren: „Sie wollen Bildung, ein sicheres Leben und gute Arbeit“ (Interview 1, 37).
Alle Befragten gaben an, dass der Wunsch nach Bildung ein zentrales Thema von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ist. Bildungserwerb wird dabei – laut der Aussagen der Befragten – gleichgesetzt mit Schule. Eine befragte Flüchtlingsbetreuerin formuliert diesen Wunsch folgendermaßen:
„Meistens wollen sie in die Schule gehen. Also, das ist so. Sie möchte in die Schule, auch wenn sie keine konkreten Vorstellungen haben, wie die Schule bei uns ausschaut“ (Interview 1, 46 f.).
Mit diesem Wunsch verbunden ist die Vorstellung, dass ein Land wie Österreich ein gutes Bildungssystem hat, in das man integriert wird, bestätigt ein Leiter einen Wohnheimes für UMF.
„Sie wollen lernen. Was sie sich unter Lernen vorstellen, das ist schon der Besuch einer Regelschule oder der Besuch einer AHS oder HTL oder solche Sachen“ (Interview 5, 6 f.).
Der Wunsch nach schulischer Bildung ist auch eines der zentralen Ergebnisse der Interviews mit jungen Flüchtlingen, die der Sonderpädagoge David Zimmermann in Deutschland durchgeführt hat. „Individuelle Leistungsstärke und -bereitschaft sind für alle Interviewpartnerinnen und -partner zentrale Aspekte ihres Selbstbildes“ (Zimmermann, 2012, S. 204). Dies mag zwar überraschen – vermutet man doch bei diesen Jugendlichen, dass sie vordergründig mit anderen Problemen als Schule zu kämpfen haben. Zimmermann führt aber an, dass gerade die vergangenen, mitunter traumatischen Erlebnisse der Jugendlichen eine wichtige Rolle in der Ausprägung der starken Leistungsorientierung spielen.
Eng verbunden mit dem Wunsch nach Bildung ist der Wunsch, einen Beruf zu erlernen. Wiederum wird dies bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen schwierig, wenn sie aufgrund ihres Alters nicht in das Pflichtschulsystem aufgenommen werden. Der Wunsch, einen Beruf zu erlernen ist auch eng damit verbunden, dass der Druck, Geld zu verdienen und Familienmitglieder zu unterstützen, bei vielen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen groß ist.

Wir wollen Deutsch lernen

Sind sie jugendliche Flüchtlinge motiviert? Die Frage haben PädagogInnen, DeutschtrainerInnen und BetreuerInnen in der Befragung in einem sehr hohen Ausmaß mit einem eindeutigen Ja beantwortet.
Als Hauptgrund für die Motivation wird genannt, dass sie möglichst schnell am sozialen Leben in Tirol teilhaben wollen bzw. die Interaktion mit den anderen Jugendlichen im Wohnheim, die nur über eine gemeinsame Sprache funktioniert.
Zu beobachten ist dabei, dass vor allem die BetreuerInnen in Wohnheimen die Motivation der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, schnell Deutsch zu lernen, noch höher einschätzen, als dies Pädagoginnen/Pädagogen oder DeutschtrainerInnen tun. Dies mag mit einer höheren emotionalen Nähe zwischen BetreuerIn und Jugendlichem liegen. In den Interviews wird aber auch darauf hingewiesen, dass die Bereitschaft zum eigenständigen Lernen geringer ist, als dies die allgemeine hohe Motivation für den Deutschspracherwerb vermuten lässt.
„Das heißt, sie gehen Deutschkurs, möchten auch schnell Deutsch lernen. Aber das heißt nicht, dass sie Vokabel lernen, Hausaufgaben machen, oder mit uns Betreuern am Nachmittag weiterlernen. Also da gibt es eine Diskrepanz“ (Interview 1, 83 f.).
Sehr eingehend hat sich der deutsche Sonderpädagoge David Zimmermann mit der Motivation zur Leistung bei jungen Flüchtlingen beschäftigt. Er führt die erhöhte Leistungsbereitschaft darauf zurück, dass die Wünsche der Jugendlichen aufgrund vieler Gesichtspunkte das Gegenteil ihrer Realität als Flüchtlinge darstellen. „Erfolg bedeutet dabei die Chance, diese Situation zu verändern“ (Zimmermann, 2012, S. 205).

Verhaltens(un)auffälligkeiten

Im schulischen Kontext kommt es bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zu Verhaltensauffälligkeiten und besonderen Situationen. Die befragten Pädagoginnen/Pädagogen geben an, dass die Jugendlichen meist in den ersten Monaten sehr ruhig sind und versuchen, die neue Situation abzuschätzen, es aber dann oft erst nach Monaten zu Verhaltensauffälligkeiten kommt. Dies wird auf das „Aufbrechen der Traumata der Flucht“ (Interview 4, 60) bzw. besondere Lebensereignisse rund um das Asylverfahren zurückgeführt. Für viele PädagogInnen mag es übrigens beruhigend sein: Jugendliche Flüchtlinge sprechen in der Schule kaum über die dramatischen Ereignisse während der Flucht. Das ist im schulischen Kontext selten ein Thema. Durchaus schwierig hingegen sind Situationen an Schulen, wenn verschiedene Nationalitäten in der Schule aufeinandertreffen, die aktuell in einen feindlichen Konflikt miteinander sind, denn „[…] da werden die Konflikte der Heimat auch schon mal in die Schule getragen“ (Interview 4, 65-66).

Kulturelle Missverständnisse

Im schulischen Bereich ist dabei zu erkennen, dass die meisten Differenzen zwischen Lehrpersonen und unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen dadurch entstehen, dass sie bisher kaum mit Schulsystemen und deren Regeln zu tun hatten. Schulzeiten, Stundeneinteilung, Verhalten in der Schule – all das sind Unbekannte für den minderjährigen Flüchtling. Eine Sonderpädagogin nannte als Beispiel, dass ein afghanischer Jugendlicher sich bei einer Schulwanderung einfach eine Zigarette angezündet hat und es überhaupt nicht verstanden hat, das dies gegen die Schulregeln in Österreich sein soll.

Sprache im öffentlichen Raum

Jeder deutsche Sprachanlass ist für die Förderung der Deutschkenntnisse eines jugendlichen Flüchtlings von enormer Bedeutung. Neben Schule, Betreuungseinrichtung und eventuell einer Ausbildungsstätte kann das ungesteuerte Erwerben der deutschen Sprache nur über die Integration in das öffentliche Leben funktionieren. Freizeitaktivitäten, wie z. B. Sport, kommt hier eine besondere Bedeutung zu.
Die UN-Kinderrechtskonvention stellt in Artikel 31 klar fest, dass jedem Kind das Recht auf Spiel und Freizeit zu gewähren ist (UNO, 2014, o. S.). Hier spielt die Betreuungseinrichtung eine zentrale Funktion, aber auch die Schule als Ort für eine Sozialisierung durch Sport und Freizeit hat durch das steigende Angebot an Nachmittagsbetreuungen eine prägende Rolle.
Für die befragten BetreuerInnen und Pädagoginnen/Pädagogen ist der soziale Austausch in der Freizeit der Jugendlichen ein zentraler Punkt, um über „Erwerben“ den Sprachgebrauch zu üben und zu vertiefen. Die Anbindung an Vereine – vor allem Sportvereine – wird von allen Befragten nicht nur befürwortet, sondern auch aktiv unterstützt. Eine befragte Betreuerin beschreibt dabei den Fall eines Jungen, der in einer Neuen Mittelschule eingeschult wurde, zuerst sehr in sich gekehrt war, aber über den Fußball schnell Anschluss fand und jetzt auch in der Freizeit im Fußballverein die Möglichkeit hat, sein Deutsch zu üben.
„Und über den Fußball hat er dann auch Freunde in der Klasse gehabt. Das war dann – dadurch, dass sie zusammen im Fußballverein waren und in der Klasse, hat das ganz gut funktioniert“ (Interview 1, 201 f.).
Ein befragte Pädagogin spricht in ihrem Interview darüber, dass es gar nicht so wichtig sei, welche Schule ein jugendlicher Flüchtling besuche, sondern setzt die Bedeutung der gesellschaftlichen Integration über das schulische Deutschlernen:
„Ich glaube, dass sie integriert werden müssen. Und darunter verstehe ich jetzt nicht integriert in die Hauptschule, sondern integriert in der Freizeit, in der Gesellschaft“ (Interview 6, 207 f.).

Ungewissheit heißt Belastung

Status: derzeit heimatlos. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge könnten – sie tun es selten – viele Geschichten über ihre Flucht erzählen. Es sind traumatisierende Erlebnisse, die aber mit dem Ende der Flucht und dem Asylantrag noch lange nicht vorbei sind.
„Die Trennung von der Familie und dem gewohnten Umfeld, Trauer um verlorene Bindungen und bekannte kulturelle Codices sowie notwendige soziale und materielle Neuanfänge prägen alle Migrationsprozesse“ (Zimmermann, 2012, S. 22).
Diese von Zimmermann beschriebenen Faktoren sind nur ein Teil der Last, die unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mit sich tragen. Nach den Ereignissen der Flucht durch fremde Länder, meist abhängig von Schleppern und deren Wohlwollen, prägen das Verhalten der Jugendlichen während des Asylverfahrens zwei wesentliche Punkte:

  • Die Ungewissheit des Asylverfahrens: Nicht zu wissen, ob man bleiben darf oder ob man gehen muss, ist eine enorme Last für die unbegleiteten Jugendlichen. Befragte PädagogInnen gehen sogar soweit, dass es am Verhalten des Jugendlichen in der Schule ersichtlich ist, ob wieder ein zentraler Termin im Asylverfahren bevorsteht (Interview 6, 153 f.).

    „Also die Zeit bis zum Interview, das Warten, die Unsicherheit, wie es weitergeht. Das ist essenziell für sie. Wenn ich mir österreichische Kinder in Einrichtungen anschaue, also die fremduntergebracht sind, dann unterscheiden sich die schon von unseren Bewohnern“ (Interview 5, 139 f.).
     
  • Heimweh und Angst um die Zurückgebliebenen: Die Trennung von den Eltern und dem sozialen Umfeld ist unweigerlich mit starkem Heimweh verbunden. Die Eltern als Anker fehlen. Flüchtlinge fühlen sich entwurzelt und in vielen Interviewsequenzen der Befragungen liest man davon, dass die Jugendlichen am liebsten sofort wieder nach Hause möchten, aber nicht können. Jugendliche, die ihre Eltern, Verwandten, Freunde noch in der alten Heimat haben, machen sich zusätzlich zum vorhandenen Heimweh auch noch Sorgen um jene, die zurückgeblieben sind oder haben den Zwang, jemanden in der Heimat finanziell zu versorgen (siehe Punkt 8). Eine Flüchtlingsbetreuerin beschreibt sehr eindringlich, dass die Jugendlichen vor allem über soziale Medien intensiv das Leben ihres alten Umfeldes verfolgen.

    „Wir haben zum Beispiel afrikanische Jugendliche, die machen sich derzeit große Sorgen wegen Ebola. Sie [UMF] sind nicht in Gefahr, aber ihre Leute sind trotzdem in Gefahr“ (Interview 1, 255 – 257).

Neben einer möglichen Traumatisierung durch die Erlebnisse der Flucht selbst beeinflussen laut den Befragungen also vor allem die Ungewissheit des Asylverfahrens, Heimweh und Sorge um die Zurückgebliebenen maßgeblich das Verhalten der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Tirol – und damit auch den Spracherwerb bzw. Leistungen in der Schule oder in den Deutschkursen in der Betreuungseinrichtung.

Als meistgenannte erkennbare Verhaltensauffälligkeiten, die auf Traumatisierungen zurückzuführen sind, nennen PädagogInnen:

  • ständige Kopfschmerzen
  • Schlafmangel durch Albträume bzw. ständige Müdigkeit
  • sehr geringe Aufmerksamkeitsspanne und geistige Abwesenheit
  • Lethargie
  • teilweise aggressives und autoaggressives Verhalten vor, während und nach besonders belastenden Momenten des Asylverfahrens.

Schule als Erfolgsgarant

Ausgehend von den Befragungen lässt sich ein zentraler Schluss ziehen: Bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen scheitert (oder gelingt) der effektive Bildungserwerb in den meisten Fällen an der gesetzlich gezogenen Altersgrenze, die es ihnen unter 15 Jahren ermöglicht, eine Pflichtschule zu besuchen und die es beim Überschreiten dieser Altersgrenze verhindert, dass ein Pflichtschulbesuch möglich ist.

Das Schulpflichtgesetz (SchPflG) in seiner derzeitigen Form stammt – mit Überarbeitungen – aus dem Jahr 1985. Die Regelung, dass in Österreich die Schulpflicht mit sechs Jahren beginnt und neun Schuljahre dauert, besteht also seit 30 Jahren (§ 2 Schulpflichtgesetz 1985, BGBl. Nr. 76/1985). In einer homogenen Schulwelt, in der jedes Kind mit sechs Jahren zur Schule kommt und sie durchgehend besucht, mag diese Regelung ihre Berechtigung haben. Es ist aber davon auszugehen, dass man sich 1985 noch keine Gedanken darüber gemacht hat, wie die Randgruppe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in solch ein homogenes Schulbild passen. Denn sie passen gar nicht dazu!

Denn kaum eine andere Gruppe von Jugendlichen hat ein derart heterogenes Bildungsniveau wie unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
„Von Analphabeten, die noch nie einen Stift in der Hand gehalten haben, bis hin zu Jugendlichen, die in ihrem Land Schulen besucht haben, ähnlich unseren Gymnasien. Also ganz weit gestreut“ (Interview 1, 41 f.).

Das Recht auf Schule für Flüchtlingskinder wird durch die Altersgrenze, welche das österreichische Schulpflichtgesetz vorgibt, karikiert. Man kann einen jugendlichen Flüchtling, der nur zweitweise oder gar nicht in die Schule gegangen ist, nicht mit einem gleichaltrigen österreichischen Jugendlichen mit durchgängiger Schulhistorie vergleichen.
Die Befragungen sowie die eigene Beobachtung ergeben hier ein eindeutiges Bild für den Bildungs- und Deutscherwerb über die Pflichtschule im Gegensatz zu jenem ohne Pflichtschulbesuch.
Ist ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling zu alt für die Pflichtschule, bleiben ihm die Deutschkurse in der Betreuungseinrichtung. Derzeit ist es die Regel, dass für einen Jugendlichen rund 200 Deutscheinheiten finanziert werden (Interview 1, 236 f.). Damit ist es praktisch nicht möglich, ohne zusätzliche Ausbildung eine weiterführende Schule zu besuchen, da die Deutschkenntnisse fehlen. Es bleibt also nur die Möglichkeit, über den zweiten Bildungsweg das Niveau eines Hauptschulabschlusses in Deutsch zu erreichen. Eine weitere Möglichkeit ist, eine Lehrstelle im Bereich eines Mangelberufs zu bekommen und über die Berufsschule weiter Deutsch zu lernen. Wohlgemerkt, es wird nur über den Deutscherwerb gesprochen, nicht über andere Bildungsmankos wie Mathematik, Naturwissenschaften u. ä., die bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen durchaus gegeben sind, da ihre Schulhistorie zumindest mangelhaft ist. Der Zeitaufwand, über diesen Weg Deutsch bzw. Allgemeinbildung zu erwerben, ist lange und beschwerlich.

Ist der unbegleitete minderjährige Flüchtling noch im Pflichtschulalter, ist der Weg auch nicht leichter, aber dennoch kontrollierter und geradliniger. Denn hier greifen der Deutschspracherwerb in der Schule und das Deutschtraining in den Betreuungseinrichtungen ineinander. Der unbegleitete minderjährige Flüchtling hat also noch die Möglichkeit, einen Pflichtschulabschluss zu erwerben, hat damit mehr Chancen, eine Lehrstelle zu bekommen, bzw. die Möglichkeit, eine weiterführende Schule zu besuchen.

Dabei ist nicht nur der schwierige und längere Weg ein Grund dafür, Pflichtschule für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Bezug auf Schule ohne Altersbegrenzung zu sehen. Vielmehr ist Schule an sich für diese Jugendlichen ein Motivationsgrund, rasch Deutsch zu lernen. Denn Schule integriert sie in die Gesellschaft, sie bietet Hör- und Sprachanlässe in der deutschen Sprache, sie ist ein Stück Normalität im Flüchtlingsalltag und bietet diesen Jugendlichen wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben ein konstantes erzieherisches Regelwerk.

Die Deutschkurse in den Betreuungseinrichtungen können dieses System Schule kaum ersetzen und werden von den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen deshalb auch nicht mit der gleichen Motivation besucht, wie externe Kurse oder Pflichtschulen. Das bestätigen alle Befragungen zu dieser Arbeit, von denen hier einige markante Aussagen herausgehoben werden:
Heimleiter: „Bei uns gibt es halt die Deutschkurse, die wirklich top sind, die sie aber mehr oder weniger gerne besuchen. Ich glaube, da gibt es bei Ihnen [UMF – Anm. d. Verfassers] eine Diskrepanz oder die vorherrschende Meinung, dass sie sagen, das einzig Wahre ist ein BFI-Kurs oder Schule zu gehen“ (Interview 5, 12 f.).
Flüchtlingsbetreuerin: „Er [betreuter Flüchtling – Anm. d. Verfassers] hat natürlich die Möglichkeit in der Schule einmal fünf Stunden täglich Deutsch zu hören. Er hat die Gelegenheit, viele Menschen zu treffen, mit denen er Deutsch reden muss. Weil im Heim gäbe es natürlich genug Kollegen, die die gleiche Sprache sprechen. Da hat er einen großen Vorteil“ (Interview 1, 187 f.).
Pädagogin: „Das ist natürlich der Vorteil der Schule, hier wird immer Deutsch geredet. Will der Flüchtling Deutsch lernen, dann geht es in der Schule recht schnell, überhaupt, wenn es ein begleitetes Angebot in der Betreuungseinrichtung gibt“ (Interview 4, 40-43).

Resümee

Österreich hat als Zivilgesellschaft durchaus bewiesen, dass es mit der aktuellen Flüchtlingskrise umgehen kann. Wir haben aber auch Angst vor der aktuellen Situation. Jugendlichen Flüchtlingen Bildung zu schenken, ist ein Weg, diese Ängste abzubauen. Österreich muss gerade unbegleitete minderjährige Flüchtlinge als Chance wahrnehmen. Wir ermöglichen ihnen, ihre fehlende Bildungshistorie in unserem Schulsystem aufzuholen, ermöglichen ihnen einen kontrollierten Deutscherwerb und lassen sie an unserer Gesellschaft teilhaben. Die könnte sein, dass Österreich ein ungeahntes Potenzial an Jugendlichen hat, die in unserer Wirtschaft aktiv vertreten und wertvolle Mitglieder unserer Gesellschaft sind. Abseits von Mitleid, Erschütterung über die Entwurzelung und Erlebnisse dieser Jugendlichen könnte diese einfache Kosten-Nutzen-Rechnung der Schlüssel zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel sein, wie wir unbegleitete minderjährige Flüchtlinge behandeln. Die Rede ist dabei nicht von einer Aufweichung der gesetzlichen Grundlagen oder die Einladung: „Lasst alle zu uns kommen!“ Vielmehr hat sich Österreich in zahlreichen internationalen Verträgen dazu verpflichtet, Asyl zu gewähren und die Grundrechte von Flüchtlingen und Kindern zu schützen. Dazu gehört, dass wir einen Prozentsatz dieser internationalen Verpflichtung übernehmen und sie in unseren Köpfen eben nicht als Verpflichtung, sondern als Chance verankert ist.  Diese jungen Menschen wollen in die Schule. Also: Lassen wir sie doch dorthin!

Ein Tipp:
Auch so kann man unbegleitete minderjährige Flüchtlinge beschulen. Die SchlaU-Schule steht für das Programm „Schulanaloger Unterricht“, das in Bayern 2000 von einer Expertengruppe geschaffen wurde. Ziel war es, ein schulähnliches Aufbauprogramm zu schaffen, das die Grundlagen für eine spätere Ausbildung bildet. SchlaU ist eine staatlich anerkannte Ergänzungsschule für junge Flüchtlinge in München. Weitere Informationen: www.schlau-schule.de

Literaturverzeichnis
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„Sie vermissen ganz extrem ihr familiäres Setting, die Eltern. Und auch die Sicherheit, die mit Eltern einhergeht. Da ist jemand, der für einen Entscheidungen trifft. Das vermissen sie sehr wohl“ (Interview 1, 269 f.).