Junge Frauen im Jihad: Zwischen Rebellion, Provokation und Fanatismus

Karin* ist 18 Jahre alt. Sie bewegt sich gerne auf Online-Foren und macht Selfies von sich im Niqab: „Was macht ihr so? Ich chille“ steht unter einem Facebook-Foto, das sie auf ihrem Himmelbett sitzend in ihrem Zimmer zeigt. Karin ist ein typischer österreichischer Teenager. Doch dann findet ihre Mutter ein One-Way-Ticket in die Türkei und plötzlich wird ihr bewusst: Ihre Tochter plant eine Ausreise nach Syrien.
So beginnt eine der Geschichten von Jugendlichen, deren Eltern sich an die Beratungsstelle Extremismus wenden.

Ein Fünftel Frauen

Mehr als zehn Prozent der geschätzten 5.000 EuropäerInnen, die nach Syrien oder in den Irak ausgereist sind, um sich terroristischen Vereinigungen, wie dem so genannten Islamischen Staat oder der Al Nusra-Front anzuschließen, sind Frauen – Tendenz steigend.
Nach einer Studie des deutschen Bundeskriminalamtes, des Bundesamts für Verfassungsschutz und des Hessischen Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus waren im Jahr 2015 von 677 Personen, die ausgereist sind oder ausreisen wollten 21% Frauen – 6% mehr als im Jahr davor. Auch in Österreich beträgt der Anteil laut Peter Gridling, Direktor des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung, 21% (57 von insgesamt 265 Personen).
Karin ist eine von ihnen. Sie hatte Kontakt zu einem jungen Mann, der sich im Kriegsgebiet befand und sie und ihre Freundinnen hatten eine Ausreise geplant.

Bräute Allahs

Warum fühlen sich junge Frauen aus Europa zu den Ideen fanatischer, islamistischer Männer hingezogen? Was treibt sie dazu, ihre Heimat zu verlassen und sich einer terroristischen Organisation anzuschließen? Es sind Mädchen wie Karin oder die damals fünfzehnjährige Samra und die sechzehnjährige Sabina, die im April 2014 aus Österreich Richtung Türkei aufbrachen, um in Syrien „für den Islam zu kämpfen“, wie eines der beiden Mädchen auf Facebook gepostet haben soll.
In der aktuellen Debatte zum Thema Frauen und islamistischer Extremismus wird den Akteurinnen in erster Linie eine passive Rolle zugeschrieben. Sie werden als „Jihad-Mädchen“ bezeichnet oder als „Bräute Allahs“:  Junge Frauen die vor ihren Computern in ihren Mädchenzimmern zu Jihad-Fans mutieren. Sie schwärmen für Kämpfer, die mit Kalaschnikows posieren und träumen eine neue Variante des alten Märchens vom edlen Ritter, der sie aus ihrer Misere erlöst. 
Die These, dass Frauen in erster Linie von romantisch-naiven Gefühlen geleitet zu „Jihad-Bräuten“ werden wollen, verschleiert jedoch facettenreiche Beweggründe und ist nach den Erkenntnissen von Forscherinnen wie Erin Marie Saltman, Melanie Smith oder Alexandra Bradford auch schlichtweg falsch.
Die Gründe für Frauen, sich jihadistischen Bewegungen anzuschließen sind vielfältig und setzen sich aus einer Reihe von Faktoren zusammen, die je nach Fall unterschiedliches Gewicht bekommen.

Leben im Kalifat

Der Wunsch nach einem Leben in einer anderen und neuen Gesellschaftsordnung ist für 34% der in der deutschen Studie befragten Frauen ein Hauptmotiv für die Ausreise. Auch die britischen Forscherinnen Bradford, Frennon, Hoyle bezeichnen die Mitwirkung am Aufbau eines Kalifats als eine wesentliche Attraktion für Frauen.
Es geht dabei nicht nur darum, dass so genannte westliche Werte abgelehnt werden, sondern um die Vision eines neuen islamischen Staates. Für manche Frauen ist dies auch eine Form des Empowerments – so abwegig dies vielleicht auf den ersten Blick klingen mag: Es geht darum, sich eine traditionelle Frauenrolle, die der Westen ablehnt, zurück zu erobern.
In vielen Fällen spielt auch Bedürfnis dazu zu gehören, einen festen Platz in der Gesellschaft zu haben, eine Rolle. Bradford, Frennon, Hoyle  kommen zu dem Schluss, dass die Suche nach Sinn, Schwesternschaft und Identität für Frauen ein Hauptmotiv für die Ausreise sind.

Auch für Karin, die sich von ihren Eltern gedrängt fühlte, einen Beruf zu ergreifen, der ihr widerstrebte, war das Gefühl, dazu zu gehören, Teil einer Gruppe zu sein, in der sie sie sich aufgehoben fühlte, eine wichtige Erfahrung.

Krieger_innen und Ideolog_innen

Die jihadistische Ideologie besagt, dass die Gemeinschaft der Muslime gegen die Ungläubigen verteidigt werden müsse. Frauen hegen, genauso wie Männer, den Wunsch für ihre Ideologie zu kämpfen – mit der Waffe oder mit Worten, wobei deutlich mehr Männer dies als Motiv angeben und auch tatsächlich in Kampfhandlungen verwickelt sind oder für logistische Rollen und in der Propaganda eingesetzt werden.
Von den Frauen geben in der deutschen Studie 19% an, dass sie im Kalifat kämpfen wollen. Wenn sie auch nicht tatsächlich an Kampfhandlungen teilnehmen, haben Frauen aber dennoch zentrale Aufgaben inne, sowohl in der Verbreitung von Propaganda als auch in der Rekrutierung.

Ungerechtigkeitsempfinden – Humanitäre Gründe

Als dritthäufigstes Ausreisemotiv sowohl für Männer als auch für Frauen werden mit 23% „humanitäre Gründe genannt. In der Propaganda des so genannten Islamischen Staates wird das Leiden von Muslimen und Musliminnen und die Darstellung als Opfer gezielt genutzt, um aus einer negativ konnotierten Identitätszuschreibung („Du gehörst nicht hier her“) eine positive Eigenzuschreibung zu kreieren („Eigentlich gehöre ich zu den Auserwählten“).
Die Studienautorinnen Saltman und Smith stellen ebenso wie Bradford, Frennon und Hoyle  fest, dass die Empathie, die Frauen mit muslimischen Opfern fühlen, verbunden mit der Mitschuld, die dem Westen zugeschrieben wird, ein starker Beweggrund für eine Ausreise sind. Bei vielen wird das Ungerechtigkeitsempfinden angesprochen, das sich auch im Wunsch, zu helfen ausdrücken kann.

Karin wollte eigentlich Kindergärtnerin werden. Doch sie scheiterte an der Aufnahmeprüfung im Singen. In Syrien, wurde ihr versprochen, würde sie gebraucht werden und sie könne mit Kindern arbeiten. Und Singen sei ohnehin haram (verboten).

Protest und Rebellion

Andere Bewegründe, gerade in der Phase der Adoleszenz, sind Protest und Rebellion gegen das Elternhaus. Einerseits spielt auch hier die Überzeugung einer weltweiten Verfolgung von Muslimen und Musliminnen eine Rolle, andererseits geht es um Protest und damit verbundene Selbstwirksamkeit: Ich werde gesehen, ich bekomme Aufmerksamkeit. Manche Soziolog_innen wie Aladin El-Mafaalani, Professor an der Universität Münster bezeichnen die „Burka“ als den „neuen Punk“.

Karins Mutter hatte es aufgegeben, mit ihr zu diskutieren, sie danach zu fragen, wie es ihr geht. Bekam sie doch jedes Mal nur patzige Antworten. Als Karin anfing ein Kopftuch zu tragen, war die Aufmerksamkeit der Mutter auf einmal wieder voll da. Doch erst, als diese das Flugticket in die Türkei am Küchentisch findet, wird ihr bewusst, dass Karin mehr dahinter steckt, als die Suche nach religiöser Identität.
Die Mutter wendet sich an die Beratungsstelle Extremismus und es beginnt ein langer Beratungsprozess. Gemeinsam mit den Eltern und anderen Beteiligten wird an Alternativen gearbeitet. Mittlerweile hat Karin eine neue Perspektive gefunden: Sie hat eine Ausbildung als Kindergruppenbetreuerin absolviert und überlegt Pädagogik zu studieren.

* Name von der Redaktion geändert

Quellen:

  • Carolyn Hoyle, Alexandra Bradford, Ross Frenett (2015): Becoming Mulan? Female Western Migrants to ISIS. Institute for Strategic Dialogue: London.
  • Erin Marie Saltman, Melanie Smith (2015): ‘Till Martyrdom Do Us Part’. Gender and the ISIS Phenomenon. Institute for Strategic Dialogue: London.
  • Bundeskriminalamt (BKA), Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), Hessisches Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus (HKE): Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind. Fortschreibung 2015.