Jugend und Jugendkriminalität

Theoretische und empirische Aspekte der International Self-Report Delinquency-Studie in Österreich

Jugend und moderne Gesellschaft

Das Jugendalter kann ebenso unbeschwert wie schwierig sein. In diesem Alter werden den Menschen nicht die vollen Pflichten der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben abverlangt. Der Freiraum für Selbstentfaltung und Identitätsentwicklung ist groß. Zugleich nimmt die elterliche Kontrolle mit zunehmendem Alter rapide ab. Beziehungen zu Eltern oder Erziehungsberechtigten verändern sich, was mitunter schmerzhafte Ablösungsprozesse erforderlich macht. Das Eintauchen in Subkulturen oder das Entwickeln utopischer und romantischer Phantasien (aktuelles Beispiel: Jihadismus bei Jugendlichen) sind Formen der Kompensation der damit einhergehenden Verunsicherung. Gesellschaften, die eine Vielfalt an Entwicklungsmöglichkeiten unter der Anforderung eines selbstbestimmten, auf eigener Leistung basierenden Lebens bieten, machen eine solche Entwicklungsphase mitsamt der dazugehörigen „Sonderwelten“ (Subkulturen, Szenen) notwendig.

Auf der anderen Seite sind Jugendliche als gesellschaftliche Gruppe marginalisiert, weil sie vom wirtschaftlichen Standpunkt aus meist nicht über ein eigenes Einkommen verfügen und weil sie auch als Wähler wenig relevant sind. Als Konsequenz gibt es außerhalb der Schule nicht immer alters- und einkommensadäquate Angebote. Jugendliche finden sich mit ihren Emotionen und Krisen oft alleine gelassen. Schließlich können sie sich aufgrund der niedrigen sozialen Kontrolle nicht nur relativ frei entwickeln. Sie können sich das Leben gegenseitig überaus schwer machen und alle möglichen „Jugendsünden“ begehen.

Aus Sicht der Soziologie geht es in der Jugendphase vor allem um die Integration der Persönlichkeit mit (späteren) sozialen Rollenanforderungen, das heißt, um den Aufbau wechselseitiger (offener, sehr oft rationaler) Handlungsorientierung, während die vertrauten Strukturen der Kindheit aufgegeben werden (müssen). In einer solchen Situation sind Konflikte und Spannungen nahezu vorprogrammiert. Rückzug in Krankheit oder das Ausagieren aggressiver Tendenzen können in schweren Fällen die Folge sein.

Die International Self-Report Delinquency-Studie

Diese besondere Situation muss man sehen, wenn man das Problem des abweichenden Verhaltens bei Jugendlichen in den modernen Gesellschaften analysieren will. Eine realistische Einschätzung insbesondere des straffälligen Verhaltens Jugendlicher ist jedoch schwierig, weil es von offiziellen Statistiken nur unzureichend abgebildet wird.

Das Kuratorium für Verkehrssicherheit beteiligte sich deswegen an der International Self-Report Delinquency-Studie (ISRD-3) und beauftragte das Kriminologische Institut der Universität Zürich mit der wissenschaftlichen Begleitung und der Auswertung. ISRD ist eine internationale, vergleichende Jugendkriminalitätserhebung, die erstmals 1988 in 13 europäischen Ländern durchgeführt wurde. Die zweite Welle fand zwischen 2005 und 2007 in 31 Ländern weltweit und erstmals auch in Österreich statt. Bei der dritten Welle, die von 2013 bis 2015 durchgeführt wurde, beteiligten sich 35 Staaten weltweit.

Die Erhebungen von ISRD werden an Schulen durchgeführt und erfassen sowohl selbstberichtete eigene Delinquenz als auch Opfererfahrungen sowie den Substanzkonsum (Alkohol, Cannabis, Heroin usw.). Solche Dunkelfeldstudien sind nicht nur eine wichtige Ergänzung zur gerichtlich oder polizeilich erfassten Kriminalität, sondern es lassen sich auch Zusammenhänge erschließen, die Jugendkriminalität begünstigen oder die ihr entgegenwirken.

In Österreich wurden die Daten im Jahr 2013 erhoben und 2015 in Berichtsform veröffentlicht. Befragt wurden Schülerinnen und Schüler der 7. bis 9. Schulstufe (das sind ganz grob die 13 bis 15-Jährigen) in allen Regelschulformen (ohne Sonderschule) und in allen Bundesländern (zuerst in Vorarlberg und Oberösterreich, dann in den restlichen Bundesländern). Die Erhebung selbst wurde mittels Online-Befragung in den Computerräumen der Schulen durchgeführt. Von knapp 9500 potentiellen Teilnehmenden konnten schließlich 6550 Fragebögen verwendet werden. Diese Fallzahlen, die auf einer repräsentativen Stichprobe beruhen, gehen weit über die Vorgaben des ISRD-Steuerungskomitees hinaus und ermöglichen nicht nur Vergleiche mit anderen Ländern, sondern auch zwischen österreichischen Bundesländern auf einer sehr detaillierten Ebene.

Eine ausführliche Vorstellung der Ergebnisse würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Sie können im veröffentlichten Studienbericht im Detail nachgelesen werden. Ich möchte nur einige wenige Ergebnisse darstellen und diskutieren. Darüber hinaus möchte ich den kriminologischen Hintergrund der ISRD-Studien beleuchten, um die Grenzen, aber auch die Möglichkeiten aufzuzeigen, die sich aus den gewonnenen Daten und ihrer Interpretation ergeben.

Jugendliche als Opfer von Straftaten

Wie die Teilnahme am sozialen Leben, nehmen auch die Möglichkeiten von Jugendlichen, Opfer krimineller Handlungen zu werden, spezifische Formen an. Im Rahmen von ISRD-3 wurden 6 Delikte abgefragt, jeweils nach dem Vorkommnis im Lebenslauf (Lebenszeitprävalenz) und im letzten Jahr (Jahresprävalenz): Raub, Körperverletzung, Diebstahl, Hasskriminalität, Cybermobbing und elterliche Gewalt, die wiederum nach dem Schweregrad in schere und leichte Gewalt untergliedert war. Leichte Gewalt umfasst das Schlagen, Ohrfeigen oder Rütteln der Opfer. Schwere Gewalt umfasst Schlagen mit Gegenständen und Fäusten, Misshandeln durch Fußtritte, bis zum Zusammenschlagen.

Am häufigsten werden Jugendliche Opfer von Diebstahl. 45,3% der Befragten gaben an, zumindest einmal in ihrem Leben Opfer dieses Delikts geworden zu sein. Darauf folgt schon elterliche Gewalt, wovon 33% der Jugendliche betroffen sind, wobei es sich in 26,9% der Fälle um leichte Gewalt handelt und in 6,1% der Fälle um schwere Gewalt. Mädchen sind mit 28,3% bei der leichten und 7,7% bei der schweren Gewalt stärker betroffen als Burschen (25,4% leichte, 4,4% schwere Gewalt). Cybermobbing ist das dritthäufigste Delikt, was insgesamt 17,1% der befragten Jugendlichen betraf. Auch hier sind Mädchen mit 23% wesentlich stärker betroffen als Burschen (10,6%).

Man sieht an diesen Zahlen sehr gut, wie die modernen Kommunikationstechnologien das Alltagsleben durchdrungen und wie sie neue Gelegenheiten der Opferwerdung geschaffen haben, wovon Mädchen stärker betroffen sind als Burschen.

Auch in einem anderen Bereich, in der familiären Gewalt, sind Mädchen Opfer als Burschen. Im Gegensatz zu Cybermobbing ist Gewalt in der Erziehung ein altes Thema und der Umgang mit ihr hat sich im Lauf des 20. Jahrhunderts dramatisch verändert. Jene Gewalt, wie sie der autoritären Familie zugrunde liegt und wie sie meisterhaft in Michael Hanekes Film „Das weiße Band“ geschildert wird, gehört aus rechtstaatlicher Sicht nicht mehr zu den sozial akzeptierten Formen der Erziehung. Die Verbannung der Gewalt aus der Erziehung ist einer der wichtigsten Kulturfortschritte unserer Zeit. Mit dem Kinderrechtsänderungsgesetz 1989 wurde das Verbot von Gewalt in der Erziehung in Österreich explizit formuliert und ihr Gebrauch unter Strafe gestellt. Seit dieser Zeit hat sich auch die von dem Kinderarzt Hans Czermak propagierte Einsicht etabliert, dass die „gesunde Watsche“ krank macht.

Gemessen an diesen Entwicklungen muss man dennoch festhalten, dass Gewalt in der Erziehung aus der Opferperspektive von Jugendlichen überhaupt das bei weitem häufigste Gewaltdelikt ist. Wenn insgesamt ein Drittel der Schüler und Schülerinnen Gewalterfahrungen in der Familie macht, in leichter oder schwerer Form, dann könnte man genauer hinsehen, was in den Familien los ist, unabhängig davon, was das für die Entwicklung von kriminellem Verhalten unter Jugendlichen bedeutet.

Jugendliche als Straftäter

Bei den Straftaten wurden ebenso jugendtypische Delikte erhoben: Sachbeschädigung (konkret in der Form von Graffiti und Vandalismus), Diebstahl, Laden-, Fahrrad-, Auto- und Einbruchsdiebstahl, sowie Diebstahl aus einem Auto, Waffentragen, Gruppenschlägerei, Körperverletzung, illegales Downloaden, Drogendealen und Tierquälerei.

Mit Abstand das Häufigste Delikt stellt mit 38,9% (Lebensprävalenz) das illegale Downloaden dar. Dabei haben die Burschen (44,8%) gegenüber den Mädchen (33,5%) die Nase vorn. Es ist wahrscheinlich, dass mit Bezug auf illegale Downloads wenig Unrechtsbewusstsein besteht. Die Tat ist praktisch nicht beobachtbar und auch in der Durchführung ist sie sehr niederschwellig.

Vandalismus (10,3%) und Ladendiebstahl (9,5%, beide werden beziehen sich auf die Lebensprävalenz) sind die häufigsten Delikte im Alltag jenseits der Virtualität. Mit 13,2% Burschen gegenüber 7,7% Mädchen beim Vandalismus und 11,1% Burschen gegenüber 8% Mädchen beim Ladendiebstahl dominieren auch bei diesen beiden Delikten die Burschen.

Interessant sind auch bundeslandspezifischen Unterschiede. So ist Vorarlberg mit 7,5% von Graffiti am stärksten betroffen gegenüber Oberösterreich, wo nur 4,4% der Jugendlichen angaben, Graffitis gesprüht zu haben. Kärnten ist beim Vandalismus (13%) sowie bei Diebstahl (6,25%) und Ladendiebstahl (9,6%) am stärksten betroffen. Solche regionalspezifischen Unterschiede können etwas mit den Tatgelegenheiten und mit dem Freizeitverhalten der Jugendlichen zu tun haben. Mehr als Vermutungen über die Gründe, die Anlass zu weiteren Untersuchungen geben, lassen die Daten aber nicht zu.

Probleme des Erklärungsansatzes

Den Hintergrund für die Erklärung von Jugendkriminalität, der für die ISRD-Studie herangezogen wird, ist die Kontrolltheorie der Kriminalität wie sie von Michael Gottfredson und Travis Hirschi formuliert wurde. Die innere Selbstkontrolle, die Bindung an Eltern, Lehrer oder Freunde, sowie die Kontrolle durch Aufsichtspersonen werden als Erklärungsfaktoren für delinquentes Verhalten verwendet. Straftaten werden als Ergebnis eines kurzfristigen Denkens konzipiert, das sich in günstigen Situationen den Wünschen des Augenblicks hingibt, während es weder auf langfristige eigene Interessen noch auf die Interessen und Gefühle anderer achtet. Der Ansatz ist aus Sicht einer zeitgemäßen Sozialwissenschaft unzureichend, weil er den Unterschied zwischen gelungener Sozialisation und den Fehlentwicklungen auf der Ebene der Handlungsmotive nicht adäquat erfasst, sondern einfach undifferenzierte Motive unterstellt, die durch innere oder äußere Kontrollmechanismen in Schach gehalten werden müssen. Gewalt und Betrug (force and fraud), wie Michael Gottfredson und Travis Hirschi argumentieren, spielen natürlich in den menschlichen Angelegenheiten immer eine Rolle, aber in modernen Gesellschaften sind sie nicht regelmäßig die Basis der sozialen Strukturen und Prozesse und bei einer stabil verlaufenden Persönlichkeitsentwicklung sind sie auch nicht die ausschlaggebenden Antriebe für eigenes Handeln.

Wenn man den theoretischen Ansatz der Kontrolltheorie auch nicht für angemessen hält, weil er letztlich auf einem veralteten Menschen- und Gesellschaftsbild beruht, bietet die Untersuchung dennoch wichtige Hinweise auf bekannte Korrelate der Kriminalität wie Schulschwänzen, eine schlechte Beziehung zu den Eltern, die sich zudem kaum für die außerhäuslichen Aktivitäten ihrer Kinder interessieren, häufiges nächtliches Ausgehen sowie der unkontrollierte Konsum von gewalthaltigen und pornographischen Medieninhalten. Es ist wenig überraschend, dass Jugendliche signifikant mehr Gewalt und Eigentumsdelikte begehen, wenn diese Korrelate auf sie zutreffen. Ohne Bindung an Rollenvorbilder ist der Aufbau wechselseitiger Handlungsorientierungen schwieriger und es können sich Motivstrukturen verfestigen, die eher auf Täuschung und Gewalt als auf Offenheit und Anerkennung beruhen.

Die Untersuchung der Korrelate von Kriminalität stammt eigentlich aus einer pragmatischen, von der sozialen Arbeit inspirierten Perspektive auf die „soziale Pathologie.“ Armut, schwierige Familienverhältnisse, Alkoholmissbrauch, familiäre Gewalt, Drogenmissbrauch, usw. fallen unter diesen Begriff. Der Gedanke ist, dass abweichendes Verhalten eine Folge sozialer Desorganisation ist und wenn man etwas dagegen tun will, muss man auf dieser sozialen Ebene intervenieren, nicht auf der Ebene der Individuen. Wenn man also Auskunft über einige dieser sozialen Probleme benötigt, dann ist die ISRD-Studie eine gute Quelle.

Ausblick

Mit der Umsetzung der International Self-Report Delinquency-Studie hat das Kuratorium für Verkehrssicherheit einen Meilenstein in der Erforschung der Jugendkriminalität in Österreich gesetzt. Insbesondere mit Blick auf die sozialen Probleme könnte der nächste Schritt sein, die österreichischen Ergebnisse mit den Ergebnissen anderer Länder zu vergleichen. Ebenso kann man genauer in die Zusammenhänge hineinsehen, die zwischen der Delinquenz und ihre Korrelaten besteht oder man kann die bundesländerspezifischen Unterschiede untersuchen. Hellhörig sollte jedenfalls das hohe Ausmaß an Gewalt in der Familie machen. Vielleicht besteht bei Eltern diesbezüglich ein genauso geringes Unrechtsbewusstsein wie bei Jugendlichen, die illegale Inhalte aus dem Internet herunterladen.