Hausarbeit im Modul "Recht und Ethik" für die Lehrveranstaltung "Menschenrechte" im Wintersemester 2021

Einleitung
Soziale Arbeit als Profession verpflichtet sich den Menschenrechten. Dies findet Ausdruck in den Berufskodizes internationaler und nationaler Berufsverbände Sozialarbeitender, im Fachdiskurs sowie immer zunehmender in den Curricula der Studierenden Sozialer Arbeit. In der Auseinandersetzung mit dem ausgewählten Fall Sarah sollen nun menschenrechtliche Aspekte für die Alltagsarbeit mit den in der Wohngemeinschaft untergebrachten Kindern beleuchtet werden. Zuerst gibt die Fallvignette im nächsten Kapitel einen Überblick über die konkrete Situation. Danach gliedert sich die Arbeit inhaltlich in menschenrechtliche Aspekte, (berufs-)ethische Überlegungen und weitere Handlungsoptionen für den Fall. Abgeschlossen wird die Arbeit mit einem Fazit.

Fallvignette
Die nachstehende Fallvignette bezieht sich auf ein acht-jähriges Mädchen, welches in einer sozialpädagogisch betreuten Wohngemeinschaft für Kinder und Jugendliche untergebracht ist. In dieser WG sind im Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe acht Kinder und Jugendliche zwischen acht und sechzehn Jahren zur vollen Erziehung untergebracht. Zuständig sind acht Betreuer*innen sowie eine Praktikant*in. Letzteres war die Rolle einer der Verfasser*innen in dieser Institution. Nach den gesetzlichen Bestimmungen müssen immer zwei Sozialpädagog*innen für administrative Tätigkeiten sowie für die Versorgung der Kinder und Jugendlichen im Dienst sein. Durch die Rolle als Praktikant*in konnte eine unterstützende Funktion eingenommen und ohne Zeitdruck einen gesonderten Blick für die Kinder und Jugendlichen entwickelt werden.

In der folgenden Fallvignette geht es um ein Mädchen, welches in dieser Darstellung Sarah genannt wird. Sie ist seit einem Jahr in der Wohngemeinschaft fremduntergebracht und darf ihre Mutter (falls diese zum Termin erscheint) unter Begleitung alle zwei Wochen sehen.
Kontakt zum Vater besteht keiner. Aufgrund der Drogenabhängigkeit der Mutter hat Sarah bereits mit fünf Jahren Verantwortung in Form von Versorgung für ihre kleinen Geschwister und die Mutter übernommen. Eine entwicklungsdiagnostische Abklärung ist noch ausständig, wobei die Spätfolgen aufgrund der Parentifizierung bzw. Rollenumkehr von Kind und Eltern nicht abzuschätzen sind. Sarah wirkt sehr perfektionistisch und das versorgende Muster von zuhause zeigt sich auch im Umgang mit den anderen Kindern und Jugendlichen in der WG.
Obwohl diese teilweise mehrere Jahre älter sind, versucht Sarah deren Aufgaben zu erledigen oder Ratschläge zu erteilen. Es besteht diesbezüglich für die Betreuer*innen der dringende Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe sie dahingehend zu begleiten, dass Sarah wieder lernt „Kind zu sein“.

Dies gestaltete sich allerdings besonders schwierig, da außer Sarah nur noch ein anderes Mädchen (Lisa) in der WG untergerbacht wurde, welches massive Vernachlässigung erfahren hat und daher unterentwickelt ist (mit sieben auf dem Stand einer drei-Jährigen). Die beiden Mädchen freundeten sich an und teilten außerdem ein Zimmer, wobei erneut eine Dynamik entstand, bei der Sarah in die Rolle der Versorgenden schlüpfte. Außerdem waren innerhalb des letzten Jahres nur sehr geringe Fortschritte in der kindlichen Entwicklung von Sarah zu verzeichnen.

Das Team stellt sich daraufhin die Frage: Inwiefern wirkt sich die Konstellation Sarah und Lisa entwicklungshemmend aus? Für die Betreuer*innen ist unklar, wie mit der Freundschaft in Zukunft umgegangen werden soll. Wie kann der Kontakt zwischen den Mädchen aufrechterhalten werden, ohne dass beide in alte Muster verfallen? Weiters stand von Seiten der Pädagog*innen die Überlegung im Raum für Sarah einen neuen WG-Platz zu suchen, der mehr ihren Bedürfnissen entspricht. Diesbezüglich herrschten Unsicherheiten im Team, welche von den Fragen begleitet wurden: War es eine falsche Entscheidung Sarah in dieser WG unterzubringen? Wie würde sie sich in einer therapeutischen WG mit anderem Setting und gezielten Unterstützungsmöglichkeiten entwickeln?

Menschenrechtliche Aspekte
Die Soziale Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen legt nahe, für das ausgewählte Beispiel den Blick auf die in der Kinderrechtskonvention (KRK) festgehaltenen Rechte zu werfen und anhand dieser, Anhaltspunkte für eine menschenrechtsbasierte Praxis in der Wohngemeinschaft herauszuarbeiten.

Das Team der Wohngemeinschaft trägt große Verantwortung für das Aufwachsen und die Entwicklung der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen. Dies findet sich auch in Artikel 20 KRK. Dieser Artikel besagt, dass Kinder, die aus bestimmten Gründen aus ihrer Familie herausgelöst und alternativ untergebracht wurden, ein Recht auf besonderen Schutz und Beistand des Staates haben. Im Fall von Sarah macht die Situationsbeschreibung des Weiteren den enormen Handlungsdruck sichtbar, der auf den Fachkräften lastet. Sie stehen vor der Herausforderung, Maßnahmen bzw. Schritte zu setzen, die weitreichende Auswirkungen auf das soziale Umfeld beider im Fokus stehender Kinder haben werden. Die Fachkräfte sollten jedoch den Artikel 20 KRK beachten, da hiermit die Kontinuität in der Erziehung beider Kinder berücksichtigt werden soll, wenn über Lösungen zur Unterbringung der Kinder diskutiert wird. Zudem sieht Artikel 3 der KRK grundsätzlich vor, dass alle von privaten/öffentlichen Sozialeinrichtungen, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder gesetzgebenden Institutionen getroffenen Maßnahmen, die Kinder und Jugendliche betreffen, das Kindeswohl als grundlegende Überlegung bzw. Ausgangspunkt haben sollen/müssen.

Nun kann der Fallgeschichte entnommen werden, dass bei Sarah durch die Parentifizierung innerhalb der Familie, die Aufgabe der Fachkräfte darin besteht, dem Mädchen „das Kindsein“ wieder erfahrbar zu machen. Insofern verfolgt das Team diesen Auftrag zum Wohle des Kindes. Artikel 39 KRK gesteht in diesem Sinne ebenso der Einrichtung die Pflicht zu, die Genesung und die soziale Wiedereingliederung des Kindes zu fördern, wenn dieses Opfer von Vernachlässigung, Ausbeutung oder Misshandlung geworden ist. Dies soll in einer Umgebung geschehen, die der Gesundheit, der Selbstachtung und Würde des Kindes förderlich ist. Dies spricht für eine Auseinandersetzung mit den Fragen, inwiefern die Freundschaft der beiden Kinder förderlich oder hinderlich für diese Wiedereingliederung und Genesung ist. Es können und sollten hier auch weitere Faktoren außerhalb der Freundschaft miteinbezogen werden, wie einrichtungsinterne Rahmenbedingungen oder der Umgang des Teams mit den Kindern.

Auch diese Faktoren können hinderlich oder förderlich für die Umsetzung des Artikel 39 KRK sein. Bezogen auf diese Rahmenbedingungen sollte für beide Kinder in jedem Fall das Recht von Artikel 27 KRK umgesetzt sein. Dieser Artikel verpflichtet die Einrichtung darauf zu achten, die Rahmenbedingungen für einen der Entwicklung des Kindes angemessenen Lebensstandard sicherzustellen. Hierunter fallen die Dimensionen der körperlichen, sozialen, sittlichen, seelischen und geistigen Entwicklung, welche beachtet werden sollten. Dies sollte man in Bezug auf die Wohn- und Freizeitsituation von Sarah und Lisa setzen. Bezüglich der Freizeitsituation wird Artikel 31 KRK bindend. Hierbei geht es um ausreichend Ruhe, Freizeit, Spiel und Erholung für die Kinder. Auch dies sollte in Bezug auf Lisa und Sarah bezogen werden. Haben beide Mädchen im altersgemäßer Form Zugang zu diesen Rechten? Wichtiger scheint hier auch die Frage: Wie sehen Sarah und Lisa das?

Aus der Sicht der Kinderrechte kommt nämlich rasch die Frage auf, ob die Diskussionen im Team nur durch die verschiedenen Wahrnehmungen der Sozialarbeitenden ausgelöst wurden, oder ob zur Einschätzung der Situation, die Meinungen von Sarah und Lisa durch die Fachkräfte erhoben wurden. Denn Artikel 12 der KRK sieht vor, dass Kinder und Jugendliche das Recht haben, ihre Meinung in allen sie betreffenden Belangen frei zu äußern. Diese Meinungsäußerung soll in weiterer Folge auch entsprechend dem Alter und der Reife des Kindes bzw. Jugendlichen Berücksichtigung finden.

„Children and young people form their own view of themselves and the outside world from an early age. Article 12 of the Convention requires adults to think about how they enable children to be heard and how much credence they give to these views when expressed“ (IFSW 2002:29).

Gerade das soeben beschriebene Recht auf Meinungsäußerung und Beteiligung des Kindes könnte in dem vorliegenden Fall zu kurz geraten (sein). Da Fachkräfte immer in einem organisationalen Kontext – und daher auch in organisationalen Zwängen – agieren, können bestimmte von der KRK vorgesehenen Aspekte in der Alltagsroutine leicht untergehen. Dabei könnte der Bezug auf die KRK den Sozialarbeitenden Alternativen eröffnen. Aus der Fallvignette kommt nicht klar heraus, woher der dringende Auftrag in Bezug auf Sarah ergeht. Allerdings könnte sich das Team mit Bezug auf die KRK und hier konkret mit dem Verweis der Notwendigkeit, Sarahs Meinung auf altersadäquate Weise (erzählen, zeichnen, etc.) einzuholen, auch zeitlichen Spielraum verschaffen und so dem Handlungsdruck etwas entgegensetzen. Darüber hinaus könnten sich durch die aktive Einbeziehung von Sarah bzw. beider Kinder alternative Handlungsoptionen für das festgestellte Problem der „Wiederholung/Verfestigung von Verhaltensmustern“ ergeben. „Social workers must not under-estimate children's acuumulated knowledge and insights into their own needs and life history“ (IFSW 2002:8). Treffen die Fachkräfte ihre Entscheidungen über Maßnahmen lediglich anhand eigener Beobachtungen und Interpretationen, laufen sie Gefahr die Beteiligung der Kinder zu untergraben. Insofern wäre eine derartige Vorgangsweise als bevormundend bzw. paternalistisch und nicht partizipierend zu bezeichnen. Diese Fragestellung schien uns zentral bei der Diskussion des Falles, weshalb im nächsten Kapitel (berufs-)ethische Überlegungen mit Blick auf Paternalismus herausgearbeitet werden.

Berufsethische Überlegungen
Bei der Gruppendiskussion kamen wir immer wieder auf den Punkt des Paternalismus zu sprechen, weshalb dieser ethische Zugang näher beleuchtet wird. Unter Patriarchat versteht man ein asymmetrisches Verhältnis eines Vaters zu seiner Familie. Historisch gesehen entstand dieser Begriff im römischen Reich, da der pater familias, der Einzige im Haus war, der Verträge unterzeichnen durfte. Es entstand eine Gesellschaftsformation von Familien bei der, der Vater für das Wohl der Familie verantwortlich ist und die Familienmitglieder sich der Autorität fügen müssen (vgl. Benner / Brüggen 2004:688). Ebenfalls wird unter Paternalismus die Bevormundung eines anderen verstanden (Bibliographisches Institut GmbH 2020). Für unseren Fall bedeutet es, die Bevormundung der Pädagog*innen über Sarah und Lisa und der Meinung, dass man wisse was für die beiden am besten wäre.

Im ethischen Diskurs zum Paternalismus zeigen sich zwei Strömungen. Einerseits den „propagierten Antipaternalismus auf Kinder übertragen [.] (z.B. Houlgate 1978; Palmeri 1980; Aviram 1990), [andererseits] bemühen sich andere um eine Rechtfertigung von Paternalismus gegenüber Kindern (z.B. Gutmann 1980; Blustein 1982; Purdy 1992)“ (Giesinger 2006:265).
Feinberg unterscheidet starken und schwachen Paternalismus. Ersteres ist seines Erachtens nicht vertretbar und richtet sich „gegen den ausgereiften Willen einer autonomen Person“ (Feinberg 1983:272 in Giesinger 2004:272). Beim schwachen Paternalismus wird in nicht-autonomes Handeln eingegriffen (vgl. ebd.).

Das Bewusstwerden der Bevormundung der beiden Mädchen bzw. zu hinterfragen, ob man wirklich weiß was besser für die beiden Mädchen ist, könnte im Team diskutiert werden. In diesem Zusammenhang erscheint auch die advokatorische Ethik nach Brumlik als passend.
Eine advokatorische Ethik ist ein System von Behauptungen und Aufforderungen in Bezug auf die Interessen von Menschen, die nicht dazu in der Lage sind, diesen selbst nachzugehen sowie jenen Handlungen, zu denen uns diese Unfähigkeit anderer verpflichtet“ (Brumlik 2004:161). Brumlik setzt die Asymmetrie von Beziehungen voraus. Weiters spricht er von „Babys und Kleinkindern“ als „Noch-nicht-Personen“ von „mental retardierten Erwachsen“ als „Niemals-Personen“ und von „bestimmten Gruppen von Alten und Kranken“ als Nicht-mehr-Personen“ (vgl. ebd.).

In diesem Fall handelt es sich bei Sarah und Lisa, um „Noch-Nicht-Personen“. Brumlik fordert bei Entscheidungen auf, die Interessen der Personen in einen Diskurs einzubringen.
Fragestellungen wie „welche Interessen [würde] ein solcher Mensch in den Diskurs einbringen? Würde die mögliche Person- gleichsam in Kenntnis des schweren Lebens, das sie vor sich hat, gleichsam abwinken oder würde sie – mutig und zuversichtlich – darauf bestehen, gleichwohl herausgebildet zu werden?“ (ebd.:179f). Weiters fordert Brumlik auf, sich vorzustellen, wie würden unmündige Minderjährige später über die getroffene Entscheidung urteilen. Würden sie einen loben, tadeln oder strafen? (vgl. ebd.). Diese Zugänge des Paternalismus und der advokatorischen Ethik nach Brumlik, erscheinen in diesem Fall für berufsethische Überlegungen als hilfreich. Diskussionen im Team zu den bereits genannten Fragen, können bei der ethischen Reflexion womöglich weiterhelfen, um neue Aspekte zu gewinnen. Weiters können auch Haltungen/Prinzipien nach dem österreichischen Berufskodex weiterhelfen.

Im österreichischen Berufskodex wird betont, dass die Soziale Arbeit sich für die Verwirklichung von Menschenrechten einsetzen soll, in unserem Fall spielen speziell die Kinderrechte eine Rolle. In Kapitel 3 wurde bereits näher auf die Bedeutung der Kinderrechte in unserem Fall eingegangen. Ein weiterer Punkt im Berufskodex lautet:
„Die Fachkräfte der Sozialen Arbeit greifen so wenig wie nötig in das Leben der Adressat*innen ein. Wann immer es möglich ist, verpflichten sich Fachkräfte der Sozialen Arbeit dazu, das maximal mögliche Maß an Autonomie von Adressat*innen zu erhalten oder anzustreben [H. d. A.]“ (obds 2020:3).

Hier finden sich zwei relevante Aspekte: Erstens steht im Vordergrund, „so wenig wie möglich“ in das Leben von Sarah einzugreifen. Das sie bereits in der gemeinsamen WG mit Lisa wohnt, wäre eine Überstellung in eine neue WG ein massiver Eingriff in Sarahs Leben. Zweitens ist Sarahs Autonomie „maximal“ zu wahren bzw. anzustreben. Ihr Autonomie zu ermöglichen, bedeutet auch, sie in den Entscheidungsprozess einzubeziehen und ihr gegenüber nicht eine paternalistische Haltung einzunehmen.

In dem Fall werden Unsicherheiten bzw. Sorgen der Fachkräfte geweckt, ob Sarah wieder zu sehr in eine versorgende Rolle fällt. Diese könnten durch eine „Hinzuziehung anderer kompetenter Professionen“ behoben werden (vgl. ebd.:4). Eine Einschätzung darüber, wie „schädlich“ die Dynamik für Sarah ist, übersteigt die Rolle der Betreuer*innen. Hierfür braucht es eine Abklärung mit einer psychologischen oder therapeutischen Fachkraft. Durch diese Anerkennung der eigenen Grenzen und der Grenzen der Sozialen Arbeit, ließe sich ein Umgang mit den Unsicherheiten bzw. Sorgen finden.

Da Sarah nicht aus eigener Entscheidung in der WG lebt und es sich somit um einen Zwangskontext handelt, ist im Umgang und der Zusammenarbeit mit Sarah Sorgfalt und Sensibilität geboten, was auch im Berufskodex betont wird. Diese Haltung wird durch die Auseinandersetzung im Team mit der im Fall geschilderten Problematik ersichtlich. Es sollte dabei auch in den Fokus genommen werden, dass Entscheidungen „mit Blick auf ihre Verhältnismäßigkeit“ getroffen werden sollen (vgl. ebd:5). Die Auseinandersetzung mit der Frage der Verhältnismäßigkeit von vorgeschlagenen Lösungsansätzen öffnet den Diskurs für eine eingehende Reflexion der wahrgenommenen Situation und hilft dabei, zu unterscheiden „zwischen prüfbaren Fakten, eigenen Beobachtungen und Fremdbeobachtungen sowie zwischen Hypothesen und Erklärungen bzw. Deutungen“ (vgl. ebd.:6). Unsicherheiten und Fragen können auch im Rahmen von „Intervision, kollegiale[r] Beratung, Supervision, Coaching sowie Ethikberatung und [bei der] Ethikkommission“ (ebd.) angesprochen werden.

Sarah wird oft hinzugezogen, um die Kommunikation zwischen Lisa und den Betreuer*innen zu erleichtern. Es wäre wichtig, zu hinterfragen, warum dies geschieht. Wenn vor allem Zeitdruck dafür verantwortlich ist, wäre mit den Arbeitgeber*innen bzw. der Organisation abzuklären, welche Schritte möglich wären, um die Situation zu erleichtern. Eventuell wäre es angebracht, eine weitere Fachkraft einzustellen. Bei anderen Ursachen wären zum Beispiel spezifische Fortbildungen sinnvoll. Auf jeden Fall aber haben die Fachkräfte laut Berufskodex das Recht und die Pflicht, den Arbeitgeber*innen und Organisationen „über schwerwiegende Mängel oder Überforderungen zu informieren und zu Lösungsmöglichkeiten beizutragen“ (vgl. ebd.:8).

Handlungsoptionen
Das nachstehende Kapitel beschäftigt sich mit möglichen Handlungsoptionen der Betreuer*innen in der Zusammenarbeit mit Sarah und Lisa. Im aktuellen Fall der stationären Hilfe für Sarah ist die zuständige Sozialarbeiterin der Kinder- und Jugendhilfe nach wie vor sehr präsent für das Betreuer*innenteam der Wohngemeinschaft. Inhaltlich spüren die Sozialpädagog*innen einen übergeordneten Auftrag durch die Behörde, Sarah dabei zu unterstützen, ihre Verhaltensmuster, v.a. die Parentifizierung aufzubrechen. Dabei wird besonders die Freundschaft zu Lisa kritisch hinterfragt, wenn Sarah an ihr die bekannten versorgenden Muster auslebt. Teile des Teams stellen sich die Frage, ob es die richtige Entscheidung war, Sarah in die WG aufzunehmen. Hätte vorhergesehen werden können, dass die Freundschaft alte Bewältigungsaufgaben reaktiviert? Welchen Stellenwert hat das geteilte Zimmer? Doch bei allen Zweifeln wird ein Wechsel Sarahs in eine andere Wohngemeinschaft ausgeschlossen. Das „Verpflanzen“ würde an Sarahs subjektiven Lösungen, die sie für ihre Lebensumstände in der Vergangenheit gefunden hat, nichts ändern. Stattdessen besteht eine große Gefahr, dass alle Erklärungen, die dem Mädchen angeboten würden, es nicht verhindern könnten, dass sie den Fehler bei sich selbst vermutet.

Die Betreuer*innen sollten beachten, dass die Rolle der „Versorgerin“ für Sarah etwas Vertrautes darstellt. Sie wurde in der Vergangenheit von vielen Seiten dafür gelobt, dass sie sich „fleißig“ um ihre Familie kümmert, wodurch ihr Selbstwertgefühl teilweise darauf aufbaut.
Auch in der WG holt sie sich oft die Bestätigung der Betreuer*innen, indem sie Lisa unterstützt etc. Die Pädagog*innen sollten Sarah darin bestärken, für ihr eigenes Wohlbefinden einzustehen und sich von dem abzugrenzen, was ihr nicht guttut. Der Fokus der Betreuer*innen könnte zukünftig mehr auf den Ressourcen und Stärken des Mädchens liegen.
In Bezug auf den Umgang mit Sarah wäre es wichtig, dass die Pädagog*innen ihr Selbstvertrauen fördern und ihr das Gefühl vermitteln, dass sie, so wie sie ist, „richtig“ und in Ordnung ist, ohne Veränderungsdruck auszuüben oder Erwartungen zu stellen. Die eigenen Bedürfnisse sollten dabei von ihr selbst wahrgenommen und artikuliert werden und nicht vordergründig der Einschätzung der Betreuer*innen oder dem Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe entsprechen.

Stellvertretend für ein Elternhaus, erbringt die stationäre Hilfe zur Erziehung u.a. eine Sozialisationsfunktion. Es erfolgt eine altersentsprechende Auseinandersetzung mit der materiellen, kulturellen und sozialen Umwelt. Deutungsmuster, Werte und Einstellungen werden erworben oder abgelehnt. Dabei ist die Beziehung zu den anderen Jugendlichen nicht minder wichtig wie die zu den Fachkräften selbst (Hansbauer et al 2020:257). Aus diesem Grund sollte die Freundschaft der Mädchen als positive Ressource gesehen werden.

Heimerziehung heißt mit dem Blick auf Jugendliche häufig, an der Aufarbeitung möglicher „Defizite“ und der Integration bisheriger Erfahrungen in die eigene Biografie zu arbeiten. Betrachtet man die Situation mit dem Konzept der Lebensweltorientierung, verlangen Sarahs Verhaltensmuster Würdigung als funktionierende Strategien ihrer Vergangenheit. Gleichzeitig setzen die Bildungsprozesse bei dem Vertrauen in ihre Entwicklungsmöglichkeiten an und zielen auf alternative Handlungsmöglichkeiten. In diesem Sinne könnte mit Sarah zukünftig erarbeitet werden, was ihr in der WG oder im Alltag (abgesehen von dem Versorgen der anderen) Sicherheit und Bestätigung gibt. Dies gilt es von den Betreuer*innen in enger Kooperation mit Sarah gemeinsam herauszufinden und zu fördern. Es stellt sich dabei die Frage. „Wie könnte ihr sonst noch das Gefühl vermittelt werden, dass sie ein wichtiger Teil der Wohngemeinschaft ist?“. Eine Möglichkeit wäre es spielerisch herauszufinden, was Sarahs Bedürfnisse sind. Dabei sollte nie eine Leistungsorientierung im Vordergrund stehen oder Gespräche auf einer Erwachsenenebene geführt, sondern der Spaß und die Ergebnisoffenheit fokussiert werden. Eine wertschätzende, partizipative Zusammenarbeit könnte die Beziehung zu den Betreuer*innen stärken und Sarah dabei helfen, sich selbst besser kennenzulernen und zu ihren Bedürfnissen zu stehen. Erlebnisse in der Natur könnten beispielsweise hilfreich sein, damit Sarah sich selbst und ihre Umwelt mit allen Sinnen erkunden kann und merkt, was ihr Freude bereitet.

In Bezug auf die Fallvignette entsteht der Eindruck, dass die Freundschaft zwischen Sarah und Lisa von den Sozialpädagog*innen nur als negativ und entwicklungshemmend betrachtet wird. Dabei wäre es durchaus möglich die Beziehung der beiden auch positiv zu nutzen, da sie sich gegenseitig genau das aufzeigen und spiegeln, was das Gegenüber „braucht“. Durch die Freundschaft besteht daher die Chance, dass Sarah und Lisa genau das voneinander lernen können, was ihnen noch schwerfällt. Die Aufgabe der Betreuer*innen wäre es, Lisa dabei zu unterstützen, die Rolle der „Expertin“ einzunehmen und Sarah zu motivieren sich auf diese neue Situation einzulassen. In diesem Sinne könnte Lisa beispielsweise eine Vorbildfunktion übernehmen und Sarah durch Spiele etc. in ihre kindliche Welt „mitnehmen“.
Dies könnte Sarah automatisch aus der Rolle als Versorgende herausholen und sie in eine entspannte Situation bringen, in der nichts geleistet werden muss.

Wenn es vorgekommen ist, dass Sarah sich in der Vergangenheit auch schon über Lisa beschwert hatte und sie als „nervig“ bezeichnet, kann dies schon als kleines „Nein-Sagen“, als erstes Eintreten für die eigenen Bedürfnisse interpretiert werden. Sie sagt deutlich, dass sie teilweise keine Lust hat, Lisa alles zu erklären und sich um sie zu kümmern. Diese Momente könnten die Betreuer*innen aufgreifen, um Sarah zu bestätigen, dass sie diese Rolle nicht übernehmen muss und es legitim ist, sich abzugrenzen. Dabei wäre es wichtig Sarah mit ihren Gefühlen ernst zu nehmen und darin zu bestärken, auf sich selbst zu hören. Im familiären Kontext war es ihr nicht möglich gewesen die übernommene Verantwortung zu hinterfragen.
In der Wohngemeinschaft gilt es daher von Seiten der Pädagog*innen zu vermitteln, dass es wichtig ist „nein!“ zu sagen und seinen eigenen Bedürfnissen nachzugehen.

Eine weitere Überlegung sollte bezüglich der zukünftigen Kommunikation mit Lisa Aufmerksamkeit bekommen. Aus pragmatischer Sicht ist es gut nachvollziehbar, dass Sarahs Fähigkeit, die entwicklungsverzögerte Freundin zu verstehen, als große Hilfe für die Betreuer*innen bewertet wird. Doch wird für Lisa das Ziel angestrebt, die Kommunikationsfähigkeit/Sprache zu stärken und für Sarah eine Reduktion der vorauseilenden Hilfsbereitschaft, wäre es vermutlich der Mühe wert, sich mit Lisa intensiv auseinanderzusetzen und die Abkürzung über Sarahs Dolmetsch-Dienste nur im Notfall in Anspruch zu nehmen.

Fazit
Die ausführliche Gruppendiskussion hat eine große Bandbreite an Perspektiven auf den Fall ermöglicht. Von der Problemorientierung, die in der Fallvignette spürbar war, ist es uns so gelungen, Ressourcen und lebensweltnahe Handlungsoptionen auszumachen. Vor allem die Kinderrechtskonvention hält die Rechte auf Beteiligung und Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen fest und konnte daher als Ankerpunkt für viele Überlegungen dienen. In diesem komplexen Fall zeigte sich ebenfalls, dass das Heranziehen ethischer Überlegungen und des Berufskodex einen Rahmen verleiht und den Fachkräften den eigenen Handlungsspielraum nochmals verdeutlicht. Was alle diese Überlegungen verbindet, ist das Bewusstsein, wie wichtig das Einbeziehen von Adressat*innen in der Sozialen Arbeit ist - auch der Kinder und Jugendlichen.


Literatur
Benner, Dietrich / Brüggen, Friedhelm (2004): Mündigkeit. In: Benner, Dietrich / Oelkers, Jürgen (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/Basel: Beltz.
Bibliographisches Institut GmbH (2020): Der Paternalismus. https://www.duden.de/rechtschreibung/Paternalismus [25.01.2021].
Brumlik, Micha (2004): Advokatorische Ethik: zur Legitimation pädagogischer Eingriffe. Berlin: Philo.
Giesinger, Johannes (2006): Paternalismus und Erziehung. Zur Rechtfertigung pädagogischer Eingriffe; Paternalism and Education. On the justification of pedagogical interventions. In: Zeitschrift für Pädagogik 52/2006, 265-284.
Hansbauer P./Merchel, J./Schone R. (2020): Kinder- und Jugendhilfe. Grundlagen, Handlungsfelder, professionelle Anforderungen.1. Aufl., Stuttgart: Kohlhammer.
IFSW - International Federation of Social Workers (2002): Social Work and the Rights of the Child. A Professional Training Manual on the UN Convention. Bern.
obds (2020): Entwurf. Ethische Standards der Sozialen Arbeit in Österreich. www.obds.at/wp/wp-content/uploads/2020/10/obds-Ethik-final.pdf [11.02.2021].