Ein Jahr Hass-im-Netz-Gesetz – Erfahrungen aus dem Kinderschutz

Mit Anfang 2021 ist das Gesetzespaket „Hass im Netz“ (HiN) in Kraft getreten. Damit soll klargestellt werden, dass auch im Internet der Rechtsstaat seine Gültigkeit hat. Die Maßnahmen brachten u.a. eine Ausweitung des Anspruchs auf Prozessbegleitung auf Delikte wie zum Beispiel Verleumdung oder Beleidigung im Internet mit sich. Die Anfragen bei uns in den möwe-Kinderschutzzentren bei Straftaten mit Internet-Bezug konzentrieren sich allerdings weiterhin noch auf Delikte, die bereits vor dem Gesetzespaket mit dem Recht auf Prozessbegleitung verbunden waren (Drohungsszenarien, Fortdauernde Belästigungen, kinderpornografische Aufnahmen, etc.).

Unsere Erfahrungen aus der Praxis zeigen hier aber auch auf, wie die Gesetzesänderung greifen kann, um auch den für die Betroffenen sehr belastenden Verläufen bei Delikten im Netz etwas entgegenzusetzen. So beispielsweise bei einer 16-jährigen Jugendlichen, deren Ex-Freund ein Video mit sexuellen Handlungen veröffentlicht hatte und im Zusammenhang damit die Betroffene auch zahlreichen Beleidigungen und demütigenden Äußerungen auf diversen sozialen Medien ausgesetzt war. Das Opfer fertigte Screenshots an und brachte das Vorgehen zur Anzeige. Es folgte eine Diversion beim Verein Neustart, bei dem sich die ausgeforschten Jugendlichen mit ihrem Fehlverhalten auseinandersetzen und über Wiedergutmachung nachdenken mussten.

In einigen Fällen konnte auch mit dem neuen „Upskirting“-Paragrafen (§ 120a StGB) bereits strafrechtlich eingegriffen werden, auch wenn noch keine „hands-on“-Delikte, also direkte Missbrauchshandlungen, stattgefunden hatten. Dies ist insofern als sehr wesentlich zu sehen, als dass sexueller Missbrauch von Unmündigen in der Regel ein strategisches Verbrechen mit schleichenden Eskalationsstufen darstellt und ein auch ahndbares Unterbrechen möglichst früh im Missbrauchszyklus zwischen Planungen, Annähern und zunehmender Normverschiebung wesentlich sowohl im Sinne des Opferschutzes als auch für die Täterarbeit ist.

Mit dem HiN-Gesetzwurde darüber hinaus einer langjährigen Forderung aus der Prozessbegleitung im Kinderbereich Rechnung getragen, da nunmehr Minderjährige auch bei Zeugenschaft von Gewalt im nahen Umfeld Anspruch auf Prozessbegleitung haben. Wissend darum, dass die psychischen Folgen miterlebter Gewalt denen direkter Gewalterfahrungen gleichzusetzen sind, ist es umso wichtiger, dass für betroffene Minderjährige nun auch entsprechende Unterstützung gesetzlich verankert wurde. 

Gerade wenn Elternteile auch selbst Opfer waren, ist eine spezialisierte und eigene Anlaufstelle für die mitbetroffenen Kinder essentiell, um deren Belastungen und Loyalitätskonflikte aufzufangen und auch Raum zu geben, von einer etwaigen direkten Betroffenheit erzählen zu können. So zeigt sich auch hier, wie wichtig und entlastend unser duales System ist und wirkt (damit gemeint ist, dass jedes Kind und auch der gewaltbetroffene Elternteil in seiner Elternrolle eine eigene Ansprechperson und somit individuelle Unterstützung erhält). Eine Ausweitung der Rechte in Angleichung an Minderjährige im Opferstatus wäre wünschenswert, um eine noch umfassendere psychosoziale wie auch juristische Begleitung auch für diese Anspruchsgruppe zu ermöglichen.

Die Nachfrage nach Prozessbegleitung zeigt sich bei uns in den möwe-Kinderschutzzentren anhaltend stark, viele Anzeigen, die wir begleiten, betreffen chronische innerfamiliäre Gewalttaten, welche durch die Lockdowns und den Wegfall institutioneller Anbindung der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu Beginn der Pandemie noch mehr Verzögerung in der Offenlegung erfuhren und seit dem Vorjahr wieder deutlich ansteigen. Je nach möwe-Standort bis zu 10% unserer Prozessbegleitungsklient:innen entfallen dabei auf die neue Anspruchsgruppe – Kinder, die Gewalt unter/an Elternteilen und/oder Geschwistern miterleben mussten.

Gerade in diesen Begleitungen machen wir auch sehr positive Erfahrungen in der Kooperation mit der Justiz – trotz der oft leider erst sehr kurzfristigen Installierung der Prozessbegleitung gelingen Fallaustausch und rasche Koordination möglichst kindgerechter und schonender Befragungssettings mit den zuständigen Richter:innen sehr unkompliziert und kindorientiert.

So zum Beispiel im Fall der Begleitung eines 10-jährigen Buben, der als Zeuge der miterlebten Gewalt zwischen den Kindeseltern geladen und mit massiven Loyalitätskonflikten belastet war. Hier konnte im Zuge der psychosozialen Prozessbegleitung einerseits der Bub umfassend und entwicklungsgerecht über seine Rechte, den Ablauf und das Setting und vor allem auch über den Auftrag und die Rolle des Strafgerichts informiert sowie die Prozessbegleitung als neutrale, kindeswohl- und kinderschutzfokussierte Vertrauensperson installiert werden. Für jüngere Kinder ist es in diesem Zusammenhang sehr relevant, die Zuständigkeiten und Aufgaben der befassten Institutionen erklärt zu bekommen, da sonst oft Verwirrung und Vermischungen entstehen in der Wahrnehmung der Kinder, welche Instanz beispielsweise über ihren Wohnort oder Kontaktrechte entscheidet. Auch die entwicklungsangepasste Erklärung spezifischer Rechte wie des Aussagebefreiungsrechts in Bezug auf nahe Angehörige (nach § 156 StPO) ist eine wesentliche Voraussetzung, damit auch junge Kinder bestmöglich diese höchstpersönliche Entscheidung und ihre Konsequenzen erfassen und umsetzen können. In Absprache mit dem zuständigen Hauptverhandlungsrichter wurden auch die Rahmenbedingungen bei Gericht gut gestaltet und so die Belastung des Buben so gering wie möglich gehalten. Im Austausch mit der Kinder- und Jugendhilfe wurde ein weiterführender Hilfeplan für das Kind erstellt.

Durch diese im Kinderschutz so wesentliche Zusammenarbeit der beteiligten Institutionen können nicht nur Gefahren wie eine Retraumatisierung durch Befragungen vor Gericht vermindert werden, sondern Prozessbegleitung im besten Fall auch das Erleben von Wiederermächtigung und Handlungsfähigkeit stärken und somit protektiv wirken.