Das Recht von Kindern auf Begabungsförderung

Sophie, Markus und Oskar sind 13 Jahre. Wie bei allen Kindern gibt es Dinge, die sie interessieren, und andere, für die sie gar kein oder nur wenig Interesse aufbringen. Sophie ist eine begnadete „Texterin“, mit ihren Texten hat sie schon Wettbewerbe gewonnen, und in der Online-Zeitung der Schule ist sie regelmäßig mit ihren Beiträgen vertreten. Anders bei Markus, den Schreiben nervt, der aber ein begeisterter Musiker ist und sein Talent in einer Band umsetzt. Und wieder anders bei Oskar, den seine Mitschüler einen Nerd nennen, weil er große Teile seiner Zeit mit dem Computer verbringt und für anderes als EDV kein Interesse zeigt. Dort aber kennt er sich aus und programmiert kleine Roboter.

Drei Kinder, drei Individuen, drei ganz unterschiedliche Begabungsschwerpunkte. Und in jedem von ihnen auch besondere Leistungen, die Sophie, Markus und Oskar erbringen. Die sind aber eben unterschiedlich: des einen Begabung ist für den anderen das Gegenteil.

Sophie, Markus und Oskar haben Glück: ihre Eltern sind stolz auf sie und unterstützen ihre Interessen. Und auch ihre Lehrer nehmen Rücksicht darauf: Oskar zum Beispiel kann dann, wenn die anderen in die Grundlagen der EDV eingeführt werden, seine Programmierkenntnisse vertiefen, indem er zum Beispiel am Unterricht höherer Schulstufen teilnimmt; die Deutschlehrerin trägt es Markus nicht nach, dass „das Schreiben und das Lesen noch nie sein Fach gewesen“ ist, weil sie weiß, dass das die Musik ist; dafür darf Sophie ihr Talent beim Schreiben in die Schülerzeitung „investieren und muss sich nicht mit den „Deutsch-Basics“ fadisieren.

Diese Situation ist keineswegs selbstverständlich. Viele Kinder leiden darunter, dass sie gezwungen werden, genau die Dinge zu trainieren, die sie wenig bis gar nicht interessieren, für die sie nicht begabt sind und mit denen sie daher auch kaum Erfolg haben. Statt ihren Stärken stehen ihre Schwächen im Vordergrund. Statt Erfolgen erleben diese Kinder fast nur Misserfolge. Statt besonderer Leistungen erbringen sie bestenfalls durchschnittliche. Drei Schülerinnen der Evangelischen Schule Berlin Zentrum haben ein Buch geschrieben, in dem sie auf genau diese Situation aufmerksam machen: „Da gibt es eine Presse, und da kommen wir Schüler rein, und dann drückt jemand drauf und quetscht zusammen und bringt uns in eine Form. Ob wir in diese Presse passen oder nicht. Ob wir uns wohlfühlen oder nicht: Wir sind wehrlos. Hilflos. … Wie wäre es, wenn man jeden so lernen ließe, wie es für ihn funktioniert? Da gibt es so viele Möglichkeiten. Vielleicht klappt lernen für manche einfach besser, wenn man mehr praktische Dinge tut. Wenn man erlebt und selbst kapiert, was da gerade vor sich geht.“ (Alma de Zarate/ Jamila Tressel/ Lara-Luna Ehrenschneider: Wie wir Schule machen – Lernen, wie es uns gefällt, Knaus Vlg. München 2014; S.42f.)

Der Neurobiologe und Begabungsforscher Gerald Hüther und der Pädagoge Uli Hauser betonen, dass jedes Kind Begabungen besitzt, allerdings besondere, die individuell sind und daher anders als bei den anderen: „Jedes Kind kommt also mit einem Gehirn zur Welt, mit dessen Hilfe es nicht nur seinen Körper und alle im Körper ablaufenden Prozesse optimal steuern kann, sondern mit dem es auch all das lernen kann, worauf es in seinem weiteren Leben ankommt. Deshalb verfügt jedes Kind über ein ganz besonderes, für die Organisation seines Körpers und für sein weiteres Wachstum und seine weitere Entwicklung optimal geeignetes Gehirn. Und so ist jedes Kind, jedes auf seine besondere Weise, hoch begabt.“ (Gerald Hüther/ Uli Hauser: Jedes Kind ist hoch begabt, Knaus, München 2012)

Folgt man diesem Denkansatz, so bedeutet das, dass jedes Kind auch ein Recht hat, dass seine individuellen Begabungen anerkannt werden, von ihm „gelebt“ werden dürfen und auch gefördert werden. Ein Recht, das noch immer, leider auch von professionell pädagogischer Seite, oft nicht eingeräumt wird – Ausnahmen siehe oben! Die Ursachen liegen in einem Missverständnis begründet: Pädagogisches Ziel ist es, aus den Schwächen von Kindern Stärken zu machen, um sie gut „auf’s Leben“ vorzubereiten: wer nicht gut lesen oder schreiben kann, muss genau das trainieren, und wer kein Gefühl für Musik hat, muss natürlich genau diesen fehlenden „Sinn“ ausgleichen und zumindest ein Instrument „perfekt“ beherrschen, und wem der „Sensus für die digitale Welt“ fehlt, muss genau diese entdecken und erforschen. Und als missverständliche D’raufgabe: denn dort, wo Kinder Stärken haben, setzen sich diese ja sowieso von selbst durch.

Genau dieser pädagogische Ansatz zielt aber in die falsche Richtung: wessen Schwächen „gefördert“ werden, wird nie Spitze werden, bestenfalls guter Durchschnitt. Vor allem aber: seine Potenziale verkümmern, seine Motivation wird „demotiviert“, sein möglicher Beitrag zum Ganzen der Gesellschaft, sei es auf wirtschaftlichem, auf künstlerischem oder auf anderen, nicht zuletzt auch auf sozialen Gebieten, bleibt ungenützt. Empirische Ergebnisse internationaler Studien belegen dies. Da in Österreich der „Stärkenansatz“ noch immer dem „Schwächenansatz“ weichen muss, gibt es laut TIMMS 2011 (Trends in Mathematics and Science Study) nur 2 Prozent Spitzenleistungen in Mathematik und Naturwissenschaft, und in der Lesekompetenz nur 5 Prozent, die eine hohe Kompetenzstufe ausweisen (vgl. PIRLS 2011, Progress in International Reading Literacy Study), ein im europäischen Vergleich letztklassiger Wert.

Dabei ist das Schulgesetz hier schon immer weiter gewesen. Im sogenannten Zielparagrafen (§ 2) des Schulorganisationsgesetzes 1962 heißt es: „Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend … durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht mitzuwirken.“ Und der Grundsatzerlass zur Begabtenförderung des Bildungsministeriums aus dem Jahr 2009 sagt es noch deutlicher: „Im Sinne der Chancengerechtigkeit hat die Schule die Aufgabe, auch die Lern- und Entwicklungsbedürfnisse der (hoch)begabten Schüler/innen wahrzunehmen und ihnen mit adäquaten pädagogischen und organisatorischen Maßnahmen Rechnung zu tragen.“ Dem ist wohl nichts hinzuzufügen außer: Auf geht’s!